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Ich bin nicht, ich werde behindert

■ betr.: „Tod auf Wunsch“, taz vom 24. 10. 94

Ich respektiere die Entscheidung eines jeden Menschen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Aber eine Exekution im Fernsehen finde ich ebenso widerwärtig wie die Mitleid heischende „Begründung“, der 63jährige sei „fast gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt“. [...]

Ihrem Artikel zufolge zeigte die Fernsehdokumentation „die letzten Stationen“ des „unheilbar kranken Patienten“. Welche Stationen waren das? In welchem sozialen Umfeld, in was für einem Kiez hat er gelebt? Was für ein Leben war das? Welche Unterstützung hat er von seiner Frau, seiner Familie, seinen Freunden, Nachbarn, Bekannten, Ärzten und so weiter bekommen? Was hat er an medizinischer, gesellschaftlicher, beruflicher, sozialer und psychischer Rehabilitation erfahren, in welchem Lebensalter und mit welcher Zielsetzung? Wie war er mit technischen Hilfsmitteln versorgt? Konnte er seine Wohnung ohne fremde Hilfe verlassen und zum Beispiel in einer Kiezkneipe ein Bierchen trinken? Oder einfach nur mit jemandem reden?

Eine Muskelerkrankung beeinträchtigt weder das Denken noch die sinnliche Wahrnehmung. Auch Schmerzen sind mit ihr nicht verbunden. An Rollstuhl, Hebevorrichtungen, Kommunikationshilfen und so weiter gewöhnt man sich rasch. Sie sind kein Unglück, sondern Hilfsmittel, die einem das Leben leichter machen und teilweise sogar die Behinderung wieder ausgleichen. Warum also wollte der 63jährige nicht mehr leben?

Auch ich „leide“ an einer „unheilbaren“, degenerativen Muskelkrankheit („progressive Muskeldystrophie“), sitze im Rollstuhl, brauche zahlreiche Hilfestellungen („Assistenz“) und werde eines (hoffentlich fernen) Tages rund um die Uhr betreut werden müssen. Dennoch habe ich nicht das Gefühl, benachteiligt zu sein oder zum Kreis „der Schwächsten in unserer Gesellschaft“ zu gehören. Im Gegenteil. Ich bin uneingeschränkt berufstätig, lebe selbständig, organisiere meine Pflege selbst, zahle (als unverheirateter „höherer“ Beamter) erheblich mehr Steuern, als ich in Form von Pflegegeld, Steuererleichterungen oder Gebührenermäßigungen „wiederbekomme“, habe viele Interessen, bin politisch aktiv und psychisch stabiler als manch anderer.

Aber ... etwas gibt es doch, was selbst mir, dem „privilegierten“ Behinderten, schwer zu schaffen macht: die alltägliche Diskriminierung und Ausgrenzung durch bauliche und andere Barrieren, die mich – nur weil ich im Rollstuhl sitze – von weiten Bereichen des gesellschaftlichen, beruflichen, politischen oder kulturellen Lebens fernhalten. Hier werde ich doch noch zu einem „Behinderten“ in des Wortes reinster Bedeutung. Ich bin nicht, ich werde behindert.

[...] Tagtäglich werden „aus Gedankenlosigkeit“ neue Barrieren errichtet und auf diese Weise behinderte Menschen auf Distanz gehalten, insbesondere dort, wo Nichtbehinderte ihre Freizeit verbringen: in Gaststätten, in Freizeiteinrichtungen, im Ferienhotel oder im Kulturbereich. Wenn und solange jedes Treffen mit Freunden, jede gesellschaftliche, kulturelle oder politische Veranstaltung, selbst jeder simple Kinobesuch oder jedes Glas Bier zu einer wahren Expedition wird, dann sind Rückzug, Einsamkeit und das Gefühl von Hilflosigkeit unausweichlich. Und wenn dann noch das Gefühl dazukommt, der Partnerin oder der Familie „zur Last“ zu fallen, dann erscheinen die Verheißungen eines Prof. Hackethal oder einer „Gesellschaft für humanes Sterben“ in einem ganz anderen Licht.

Wer „aktive Sterbehilfe“ für behinderte (oder alte) Menschen öffentlich propagiert, hat keine Ahnung davon, wie man auch mit einer Behinderung leben kann, und handelt schon deshalb ethisch und politisch verantwortungslos. Er verschließt die Augen vor den alltäglichen Diskriminierungen und Ausgrenzungen, sieht tatenlos zu, wie behinderte (oder alte) Menschen ins gesellschaftliche und soziale Abseits gedrängt werden, und beruhigt dann sein schlechtes Gewissen damit, daß er sie „auf ihren eigenen Wunsch“ umbringt. Und dies wird in einer Live-Show im Fernsehen als „Dokumentation“ verkauft. Nicht „Vorurteile“ sollen hier abgebaut werden, sondern Hemmschwellen. [...] Klaus Fischbach, Berlin

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