Algerien/Frankreich

■ betr.: „Neue Schuld“ von Hugh Roberts, taz vom 26. 10. 94

[...] Dieser Artikel ist ein Affront gegen alle Bürgerrechtler und Intellektuellen Algeriens. Täglich werden in Algerien – von den Islamisten unterstützt – Journalisten, Akademiker, Schriftsteller, Frauen ermordet. Kein Wort darüber im Artikel der taz. Die Täter werden hier zu Opfern gemacht. Das ist die allergrößte „Neue Schuld“ der taz. Yilbert Casasus, Seligenstadt

Der Autor macht gleich zwei typische Fehler eines plumpen Antiimperialismus. Der erste ist, daß er einfach nicht glauben kann, daß die Massen in einem Schwellenland ähnlich auf Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit reagieren wie im Europa der dreißiger Jahre, nämlich mit Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und aggressivem Nationalismus. Die Rolle, die in Europa damals die faschistischen Parteien spielten, spielen in Algerien jetzt die islamistischen. Weil aber der Dritte-Welt-Mensch so schlecht nicht sein kann, verharmlost Roberts die islamischen Parteien. Es sei „vollkommen absurd“, daß sie einen islamischen Staat etablieren wollten, gewalttätig seien sie nur wegen des staatlichen Verbots. Die Realität spricht eine andere Sprache: Die Islamisten hatten vor der Wahl nicht nur klargemacht, daß sie Männer in Arbeit bringen wollen, indem sie Frauen ins Haus verbannen, sondern verkündeten auch, Volkssouveränität sei im Islam nicht vorgesehen, nur die Souveränität Gottes.

Hätte das Militär also nicht geputscht, wären die ersten freien Wahlen Algeriens auch die letzten gewesen. Auch der Terror, den die islamistischen Gruppen zur Zeit ausüben, läßt keinen Zweifel an ihren Zielen. Er richtet sich nicht vorrangig gegen die Armee, sondern gegen jedermann und vor allem jedefrau. Die schon in den letzten Jahren spürbar wachsende Ausländerfeindlichkeit Algeriens hat Ausmaße angenommen, die deutsche Skinheads vor Neid erblassen läßt. Dutzende Ausländer wurden wahllos erschossen, darunter sogar muslimische Arbeiter aus Bosnien. Frauen wagen sich meist nur in nonnenähnlicher Tracht auf die Straße, von öffentlichen Ständen sind sie praktisch verbannt. Im Kampf gegen entartete Kunst wurden unlängst zwei populäre Musiker von Islamisten entführt und einer erschossen – sie verbanden traditionell arabische Musik mit europäischem Rhythmus. Algerier, die westlichen Lebensstil pflegen, zum Beispiel Alkohol trinken oder europäische Freunde haben, müssen mit Ermordung rechnen. Die arabische Rasse soll rein von fremden Einflüssen bleiben. Traurig aber wahr: Nach den Wahlen im Dezember 91, bei denen die Islamisten siegten, gab es nur noch zwei schlechte Alternativen: eine demokratisch gewählte, faschistoide Regierung oder ein undemokratischer Militärputsch, der aber Pressefreiheit, Handlungsfreiheit für demokratische Parteien und Bürgerfreiheiten gewährte. Die meisten Algerier, die ich kenne, aber auch die zweitstärkste Partei, die FFS, halten das zweite für das kleinere Übel. Bei neuen Wahlen würde sich das Problem wahrscheinlich genauso stellen. Wenn der Autor meint, die Islamisten würden heute keine Mehrheit mehr bekommen, dann ist das nichts als Spekulation.

Der zweite typische Fehler des plumpen Antiimperialismus bei Roberts ist die Auffassung, alles Üble in der Dritten Welt sei letztlich auf die imperialistischen Staaten, hier auf Frankreich, zurückzuführen. Ohne jeden Beleg behauptet er, die algerische Armee „fungiere als Verlängerung der französischen Generalität“. Sicher hat auch Frankreich ein Interesse an der Unterdrückung der Islamisten, denn bei ihrer Machtergreifung würde die Zahl der algerischen Flüchtlinge vor allem nach Frankreich stark zunehmen. Die Armee und mit ihr verbundene Teile des alten Regimes haben aber natürlich vor allem deshalb geputscht, weil sie nach dem Befreiungskrieg nach und nach selbst zu einer neuen herrschenden Klasse in Algerien wurden und ihre, im Weltmaßstab allerdings recht bescheidenen, Privilegien nicht aufgeben wollten. Der jetzt beginnende Dialog zwischen Armeeführung und Islamisten kann durchaus dazu führen, daß die korrupten Teile der Armeeführung den Islamisten politisch weit entgegenkommen, wenn diese der Armee an anderer Stelle entgegenkommen. Schon unter Chadli wurde auf Druck der Islamisten ein reaktionäres Erbschafts- und Familiengesetz verabschiedet. Viele Algerier hoffen daher weniger auf eine Einigung zwischen Armee und FIS, sondern darauf, daß sich ein integrer Flügel in der vergleichsweise gut organisierten Armee durchsetzt und dem Land zusammen mit den kabylischen Parteien eine neue politische Orientierung gibt. Boudiaf stand offenbar für eine solche Politik. Ob er von Islamisten oder reaktionären Militärs ermordet wurde, ist bis heute unklar. Interesse an seinem Tod hatten beide. Paul Tiefenbach, Bremen