„Daß wir wagten hinzusehen!“

■ Die deutsche Frauengesundheitsbewegung ist 20 Jahre alt geworden

„Was wir sahen, ist eine Banalität für jeden Frauenarzt, aber ein Geheimnis für uns Frauen selbst: Wir sahen unseren eigenen Körper. Die Vagina bis hin zum Gebärmuttermund. Es war unerhört. Daß eine Frau es wagte, die uns eingeredete Scham so gelassen von Tisch zu fegen! Daß wir wagten hinzusehen!“ Die erste öffentliche vaginale Selbstuntersuchung in Deutschland ist nicht nur für Alice Schwarzer ein befreiendes Erlebnis. Über 300 Frauen haben sich im November 1973 im Berliner Frauenzentrum versammelt, um den Vortrag zweier US-amerikanischer Feministinnen über Gesundheitsselbsthilfe zu hören. In Berlin gründen sich nach diesem Abend die ersten deutschen Selbsthilfegruppen, um gemeinsam den weiblichen Körper zu entdecken, über Sexualität zu sprechen, die Pathologisierung natürlicher Vorgänge in Frage zu stellten und für das Recht auf Abtreibung zu kämpften. Aus einer dieser Gruppen geht ein Jahr später das Feministische Frauen Gesundheits Zentrum hervor. Dessen Publikation Hexengeflüster, die mittlerweile eine Auflage von über 70.000 Exemplaren erreicht hat, informiert erstmals umfangreich und verständlich über weibliche Anatomie, alternative Behandlungsmethoden von vaginalen Infekten und Abtreibungsmethoden. Die kollektive Vaginabetrachtung ist keineswegs nur Nabelschau. Bereits 1975 formuliert die Gruppe „Brot und Rosen“ in einem Flugblatt die politischen Implikationen der Beschäftigung mit dem eigenen Körper: „Was mit unserem Körper und unserer Sexualität geschieht, steht in engem Zusammenhang mit Gesellschaftspolitik, wie Familien-, Gesundheits- und Bevölkerungspolitik.“

Wie brisant der Themenkomplex tatsächlich ist, zeigen die Reaktionen auf Veranstaltungen und Veröffentlichungen der Selbsthilfefrauen. So schreibt etwa ein Dr. Ulrich Wolff 1979 im Deutschen Ärzteblatt über die Arbeit der Frauen: „Der Angriff ist gezielt und dient in seiner Weise, den parlamentarisch-demokratischen Staat und seine Organisationsformen in ein sozialistisches Kollektiv umzuwandeln.“ Gerade vielen Medizinern sind die Aktivitäten der Frauen unheimlich. Denn an ihrem Götterstatus wird massiv gerüttelt. Clio, die Zeitschrift des FFGZ richtet gar die Rubrik „Schwein des Monats“ ein. Hier werden Ärzte vorgestellt, die zum Beispiel die Notsituation ungewollt schwangerer Frauen ausgenützt haben, um sie sexuell zu belästigen. Aber auch andere gesellschaftliche Kräfte haben Vorbehalte. Bei einem Vortrag inklusive öffentlicher Selbstuntersuchung in Marl kommt es 1977 gar zum Eklat. Anwesende CDU-Frauen empfinden die Vorführung als zutiefst unsittlich und wenden sich an Landtag und Bundesregierung mit der Anfrage, ob ein derartiges Treiben nicht gerichtlich unterbunden werden kann.

Trotdem erreichen das FFGZ und ähnliche Einrichtungen eine schrittweise Anerkennung ihrer Arbeit. Auf internationalen Frauen- und Gesundheitskongressen, unter anderem der Weltgesundheitsorganisation, stellen sie ihre Konzepte vor. Die Entwicklung alternativer Selbstuntersuchungs- und Behandlungskonzepte stößt auch bei Frauengruppen aus dem Trikont auf Interesse – nicht wie in Europa und den USA als Reaktion auf ärztliche Dominanz, sondern als einfache und preiswerte Gesundheitsversorgung für Frauen. 1983 veranstaltet das FFGZ mit dem Deutschen Entwicklungsdienst Gesundheitsseminare für Mitarbeiterinnen in Übersee, in den darauffolgenden Jahren werden immer wieder Fachfrauen aus aller Welt zwecks Erfahrungsaustausch eingeladen.

Erst 1983 bekommt das FFGZ öffentliche Gelder vom Berliner Senat. Als Gesundheitssenator Luther zehn Jahre später aus Spargründen die Schließung des Projektes androht, hagelt es internationale Proteste. Sie sind erfolgreich, das Zentrum kann weiterarbeiten. Gerade ist die überarbeitete Neuauflage der FFGZ-Wechseljahrsbroschüre erschienen, eine Aufklärungskampagne zu Gebärmutterentfernungen läuft. Außerdem streuen die FFGZ-Frauen derzeit Informationen zu Rechten von Patientinnen und zum Transplantationsrecht. Angst, daß ihnen die Themen ausgehen könnten, haben sie nicht. Sonja Schock