■ Vor 40 Jahren begann in Algerien der Befreiungskrieg
: Kleine Arrangements mit dem Tod

Die Geschichte ist immer wieder für seltsame Paradoxa gut! Während in Algerien mit Feuer und Schwert und Terror um eine islamische Republik gekämpft wird, feiert das Land am Tag, an dem die Christen ihrer Toten gedenken, den 40. Jahrestag des wichtigsten Ereignisses seiner Geschichte. Am 1. November 1954 begann der Befreiungskrieg gegen den französischen Kolonialismus, der anderthalb Millionen Tote forderte.

Heute befindet sich das Land im Krieg mit sich selbst. Es ist ein Krieg ohne Etikett, der bereits 30.000 Tote gekostet hat. Islamische Fundamentalisten haben Hunderte Fabriken zerstört, mehr als 600 Schulen abgebrannt, Tausende Hektar Land den Flammen preisgegeben. Die Machthaber haben diese Bilanz mitzuverantworten. Der neueste Bericht von amnesty international zeichnet ein niederschmetterndes Bild von Folter und Repression.

Trotz der Freilassung der Führer der Islamischen Heilsfront (FIS), Abassi Madani und Ali Belhadj, kommt der Dialog zwischen der Macht und den Islamisten nicht voran. Die Ermordung des populären Rai-Sängers Hasni und die Entführung des kabylischen Chansonniers Matoub Lounès haben das Land aufgewühlt. Vor wenigen Tagen hat eine Gruppe von über 120 Terroristen am hellichten Tag das kabylische Dorf Idjer überfallen. Fast gleichzeitig schaltete die Armee in Oued Ouchaieh bei Algier eine bedeutende fundamentalistische Gruppe aus.

Die Gesellschaft wird von beiden Seiten terrorisiert. Die Fundamentalisten erpressen die Händler, untersagen den Schulunterricht und versuchen, den Frauen den Tschador aufzuzwingen. Polizei und Armee führen in den ärmeren Vierteln Razzien durch und bringen dadurch vor allem die Jugendlichen gegen sich auf, die weder Arbeit noch Zukunft haben und in ihrer Verzweiflung die Reihen der terroristischen Gruppen auffüllen. Ganze Dörfer organisieren bereits ihren Selbstschutz. Zahlreiche Familien zügeln ihre Rachegelüste, um später einmal den Tribut für vergossenes Blut einzufordern.

Die Islamisten haben zwar in gewissen Orten eine solide Unterstützung und auch Sympathien in den ärmeren Vierteln der Städte, doch ihre terroristische Praxis schreckt offensichtlich die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ab. Die Armee ihrerseits, die die Macht innehat, ist total diskreditiert und findet in der Bevölkerung keinen Rückhalt. Dazwischen lebt die schweigende Mehrheit, die nicht mehr spricht, weil die Angst, das Elend und die Entbehrungen alle Illusionen aus dem Aufbruch von 1988 mit seinen Versprechungen auf ein besseres Leben und auf Demokratie zerstört haben.

Trotzdem gibt es viele Kräfte, die sich weder im politischen Islamismus noch in der Macht wiedererkennen: Die Berber der Kabylei haben einen breit befolgten Schulboykott und zahlreiche Straßendemonstrationen durchgeführt, jüngst sogar in Algier selbst, um für die offizielle Anerkennung ihrer Kultur und Sprache zu kämpfen. Und an vorderster Front im Kampf gegen den Fundamentalismus stehen die Frauen, die ihre Forderungen immer wieder auf die Straße getragen haben.

„Keine der beiden Seiten kann militärisch siegen“, hat jüngst ein FIS-Führer eingestanden. Andererseits ist der von Präsident Zeroual eingeleitete Dialog in einer Sackgasse gelandet. Die FIS weigert sich, den Terrorismus zu verurteilen. Ihre Mitverantwortung für die Attentate ist offensichtlich, auch wenn die beiden FIS-Führer Djeddi und Boukhamkham in einem Bericht jüngst eingestanden haben, daß die GIA (Bewaffnete Islamistische Gruppe) inzwischen das Terrain beherrscht und sie selbst nicht mehr genügend Einfluß haben, einen Waffenstillstand durchzusetzen.

Wer heute Algerien aufsucht, wird feststellen, daß die Bevölkerung weithin gleichgültig das Geschehen zur Kenntnis nimmt. „Nur Gott weiß“, so hört man oft, „wo das alles hinführt. Ich habe mit Politik nichts am Hut.“ Die wirkliche öffentliche Meinung ist die Angst. Erst in der privaten Sphäre lockern sich die Zungen. Dann wird man des ganzen aktuellen Dramas gewahr: Die Leute vertrauen auf keine Lösung mehr, sie sehen keine Perspektive mehr. Es ist, als ob ein übernatürliches Unglück über sie hereingebrochen wäre. Der Dialog, von dem im Fernsehen bis zum Überdruß die Rede ist und bei dem die Führer verschiedener Parteien zu Worte kommen, scheint die Leute nicht zu interessieren. Man spürt, daß sie von der Gewalt die Nase voll haben.

Letztlich sind sie in der Zange zweier mörderischer Gewalten, der Islamisten und der Machthaber. Einige fürchten, daß die beiden Lager ein Bündnis oder, unter dem Druck des Westens, vornehmlich der USA, zumindest einen Kompromiß eingehen. Die radikaldemokratischen Kräfte hingegen wissen, daß eine Verhandlungslösung vor allem zu Lasten der Frauen und der Intellektuellen gehen würde. Wieder andere, die eine solche Lösung wünschen, wissen, daß sie nicht nur zu einer Spaltung im Lager der bewaffneten Islamisten, sondern auch in der Armee selbst und damit zu einem Bürgerkrieg führen könnte.

In Algier herrschen Angst und Niedergeschlagenheit. Am meisten gefährdet fühlen sich die Frauen. Seit diesem Sommer wurden viele entführt, um im Maquis als „Erholung für die Krieger“ mißbraucht zu werden. Eine Fatwa der GIA-Führer erlaubt nun, um dies „rechtlich“ abzusichern, die „Ehe auf Zeit“.

25.000 Akademiker, unter ihnen 1.200 Universitätsdozenten, sind aus dem Land geflohen, meistens nach Frankreich. Abderahman Faredeheb, Universitätsprofessor in der westalgerischen Stadt Oran, hatte bereits die Zusage zu einer provisorische Stelle an der Universität von Grenoble erhalten. Doch er konnte nicht nach Frankreich einreisen, weil er kein Visum hatte. Er wurde im Beisein seiner 14jährigen Tochter ermordet. Sehr viele Intellektuelle leben inzwischen völlig klandestin in ihrem eigenen Land. Die Attentate gehören längst zum Alltag. Der Konsum von Beruhigungsmitteln ist drastisch angestiegen. Und eine bekannte Journalistin schrieb jüngst in der Zeitung: „Ich wünsche nur noch eine Sache. Sie sollen mir wenigstens eine Kugel geben, statt mir die Kehle durchzuschneiden!“

Niemand weiß, wie es weiter geht in diesem Land, das so stolz auf seine Novemberrevolution ist und jetzt in Verzweiflung und Chaos versinkt und zu einem einzigen großen Alptraum geworden ist. Nun scheinen alle zu Feinden aller werden zu können. Das schlimmste dabei ist diese schreckliche Banalisierung des Todes, eine kollektive Neurose. Diese Ausweglosigkeit zwischen einer Machtclique, die nur noch ein Ziel hat: an der Macht zu bleiben, und den fundamentalistischen Kräften, die die Macht erobern wollen, um über das Land ihr Grabtuch zu legen. Und die Leute machen ihre „kleinen Arrangements mit dem Tod“. Wie lange noch? Nourredine Saadi

Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Algier, ging zu Beginn des Jahres nach Frankreich ins Exil und doziert nun an der Universität in Arras. (Übersetzung: thos)