Beziehungskiste

■ Rußlands Premier sagt Polen-Besuch wegen „antirussischem Vorfall“ ab

Warschau/Berlin (taz) – Die polnisch-russischen Beziehungen sind auf einem neuen Tiefpunkt: Rußlands Premier Viktor Tschernomyrdin hat seinen seit langem geplanten Besuch in Polen am Dienstag abend überraschend abgesagt, doch den angegebenen Grund – schlechte Behandlung russischer Touristen in Warschau – will ihm dort niemand so recht glauben. Ganz unberechtigt sind die polnischen Zweifel tatsächlich nicht: Die von den Russen eingeklagten Mißstände am Warschauer Ostbahnhof sind schließlich nicht neu. Immer wieder werden dort russische Reisende von russisch sprechenden Erpressern zu „Zollabgaben“ für die mitgeführte Ware gezwungen. Und immer wieder passiert es, daß die Polizei die Anzeigen der Opfer nicht bearbeitet. Nur: In diesem Fall ließen sich die Ausgeplünderten dies nicht gefallen, verbarrikadierten sich in ihren Abteilen und zogen die Notbremse. Worauf die Warschauer Polizei die Russen aus dem Zug prügelte und festnahm.

In Moskau ergriffen Schirinowskis Nationalisten die Gelegenheit beim Schopf und forderten von Außenminister Andrej Kosyrew Aufklärung des „antirussischen Vorfalls“. Tagelang verschwand das Thema nicht aus der russischen Presse. Da die von Kosyrew geforderte Entschuldigung der Polen bis Dienstag nicht vorlag, sagte Tschernomyrdin den Besuch ab.

Polnische Zeitungen jedoch spekulieren, daß der Vorfall nur ein Vorwand war und es bei den Verhandlungen über die zur Unterzeichnung anstehenden Verträge Unstimmigkeiten gegeben habe. Dies könnte das Abkommen über den Bau einer Gas-Pipeline von Rußland über Polen nach Deutschland sowie einen Vertrag über die Verrechnung der beiderseitigen Schulden betreffen. Vielleicht, so die polnische Presse, versuche Moskau aber auch mit einer Propagandakampagne Westeuropa von der Russenfeindlichkeit der Polen zu überzeugen, um auf diese Weise die Nato-Aufnahme Polens zu sabotieren. her/kb