Belcanto des Begehrens

Margriet de Moors Roman um Sex, Sprache, Musik  ■ Von Elke Brüns

Kann man die Rätselhaftigkeit eines Menschen nicht ertragen, wird man ihn töten, war die bittere Erkenntnis in Margriet de Moors Debütroman „Erst grau dann weiß dann blau“. In „Der Virtuose“ bringt sie das Rätsel, das am Leben hält, als Musik zum Klingen: Was ist Begehren?

Die Contessa Carlotta reist nach der Geburt ihrer Töchter mit ihrem eher schwulen Mann zur Opernsaison nach Neapel. Dort wird sie Gasparo Conti wiederbegegnen, dem gefeierten Soprantenor, dem virtuoso, der als Junge in ihrer Dorfkirche sang. Gasparo wurde kastriert, weil Carlottas kunstverliebter Vater mit dessen Vater um das Gechlecht seines Sohnes spielte. „Der Körper ist, was man selbst ist“, denkt Carlotta. Was also ist der Körper? Auf dem Spieltisch der Väter lautete der Einsatz: Kunst oder Trieb, Kultur oder Natur.

Mit Carlottas Vater gewinnt die Kunst, Gasparo verliert seine Zeugungsfähigkeit und erhält (sich) die Stimme. Ist es die Kindheits- Stimme als geheime Erinnerung Carlottas, die sie später in Bewegung setzt? Denn: „Wer an die Küste fährt, spürt das Meer schon lange vorher.“

„Der Körper ist, was man selbst ist, und Wissen fängt mit dem Verlangen an“, denkt Carlotta weiter. Was erkennt der Genuß, wenn er küssend zugleich erforscht, wo im Mund die Buchstaben geformt werden? Das Abc der Sprache ist das der Liebe: Was wäre Sex ohne Sprache, Sprache ohne Erotik? Der Taumel der Sinne als Koitus sublimatus: In Gasparos verzierte Arien wird sich die unbewußte Erinnerung an den Körper Carlottas einschreiben, ihr bleibt das Wissen eingehämmert: Kopftöne, Obertöne, und sie wird Nachtigallen hören, wenn keine singen.

Kultur und Natur spielen in diesem Text ihre verwirrenden Möglichkeiten durch: Gasparo ist weiblich-unbehaart und weich und trotzdem männlich; eher passiv und gefügsam, gibt er sich den körperlichen Lehren Carlottas hin. Carlotta, in Liebesdingen auch mit Frauen erfahren, begehrt aber gerade keine weibliche Anatomie, sondern eine männliche, die die kulturelle Inschrift des Weiblichen trägt: kastriert. So wird der männliche Sänger mit seiner weiblichen Kunst-Stimme ihren Körper der Ekstase öffnen, die Frau hingegen schreibt seinem Körper mit erotischer Raffinesse den Kulturtext der Liebe ein.

„Sex ist der Kern von allem“, denkt Carlotta. Auch des Geschlechts? Dem Genuß als Erkenntnis – der Literatur also – gelingt es spielend zu formulieren, womit Theorien zu gender und sex sich dekonstruierend abmühen: Carlottas aus der weiblicheh Art geschlagene Schwester darf auf dem Männern vorbehaltenen Theater mit ihnen eine Frauenrolle spielen, „verkleidet als diejenige, die man sei“.

Geschlecht ist eine täuschende Inszenierung und darum wahr. Gasparos Kunst verdankt sich dem Einschnitt in den Körper, der seine ursprüngliche Natur zerstörend wahrt: „Virtuosität ist Unschuld“, denkt Carlotta.

Genuß und Erkennen sind eins: Wozu sollte man das amouröse Abenteuer einer jungen Adeligen um 1740 lesen wollen, wenn nicht, um ein lustvolles Vorbild zu entdecken? Im „Aufschreibesystem um 1800“, schreibt Friedrich Kittler, repräsentiert die Mutter die Stimme als Natur, die der männliche Autor zur poetischen Schrift formt. Ein halbes Jahrhundert früher folgt Carlotta, mutterlos aufgewachsen, in ihrer Leidenschaft nicht der Stimme ihrer/der Mutter- Natur, sondern dem väterlichen Kunstverlangen. Vielleicht ist Carlottas körperliches Begehren nach der musikalischen Frauen-Stimme im männlichen Körper ein Bild für das weibliche Aufschreibesystem am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts: Schreiben als erotischer Akt, der nicht nur, wie Mallarmé sagt, Musik in die Buchstaben bringt, sondern – sottosopra, drunter und drüber – auch das andere Geschlecht imaginieren lernt: männlich anders als männlich.

Daß Sprache als erotisierte zur Musik wird, Sprache als musikalische erotisiert, ist der einfachste Topos für ein Buch, in dem es um Musik, Sprache und Sex geht. Zugleich ist er der zutreffendste. Was sich so einfach und leicht liest, ist das Subtile einer Sprachkomposition, die der natürlichen Sprachmaterie so ähnelt wie der kastrierte Körper dem biologischen: Das Kunst-Stück besteht darin, „daß bei der wahren Liebe vor allem die ganz normalen Bewegungen die erotisch erregendsten sind“.

Wie jede Arie endet auch jede Liebe. Von der großen Liebe wird etwas bleiben: Der Körper hat sein eigenes Gedächtnis. Wieder an Land, ob gestrandet oder gerettet, spürt man das Meer noch lange in sich. Wenn mit dem Ende der Liebe Musik, Sprache und Buch verstummem, hat einen das (Text-)Begehren längst erfaßt: es soll weitergehen, immer von neuem.

Margriet de Moor: „Der Virtuose“. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Carl Hanser Verlag, 166 Seiten, geb., 34 DM