Stoff für eine mordsgefährliche Diskussion

■ Neue Dokumente belegen, daß Kaiser Hirohito im Zweiten Weltkrieg persönlich Befehle erteilte. Wußte er auch von den Kriegsexperimenten seiner Armee?

Wer in Japan versucht, die historische Wahrheit zu sagen, braucht Mut. Keine Diskussion verdeutlicht das besser als die um die Kriegsverantwortung des Kaisers. Fünf Jahre ist es her, daß Hitoshi Motoshima – der Bürgermeister von Nagasaki – als erster gewählter Amtsträger den Tenno wegen seiner Kriegsschuld öffentlich anklagte. Kurz darauf schoß ihm ein rechtsradikaler Attentäter eine Kugel in die Brust, die ihn fast getötet hätte. Weil sich danach 35 rechtsradikale Gruppen öffentlich zu dem Attentat bekannten, ohne daß die Polizei sie weiter verfolgte, griff seitdem niemand mehr das mordsgefährliche Thema auf.

Erst vor wenigen Tagen wagte deshalb auch das Nationale Verteidigungsinstitut in Tokio eine bislang beispiellose Veröffentlichung: In zehn Bänden mit mehreren tausend Seiten, die ab sofort im japanischen Buchhandel für umgerechnet 4.600 Mark zu erhalten sind, verlegt das Institut sämtliche Befehle der Obersten Heeresführung im Zweiten Weltkrieg. Die Bände reichen vom Angriff der kaiserlichen Truppen auf China im Jahr 1937 bis zur Kapitulation vor den einrückenden US-Truppen im Jahr 1945. Dabei werden die bislang nur teilweise für die Wissenschaft zugänglichen Originaldokumente mit einem alles entscheidenden, zuvor unzugänglichen Zusatz abgedruckt: Sämtliche Obersten Heeresbefehle („Tairikumei“) tragen nun als Absender den Stempel von Kriegskaiser Hirohito („Hochokudensen“) und die jeweiligen Adressaten in der Armee. Fünf Jahre nach dem Tod des bis dahin in allen Ehren gehaltenen Hirohito und nur wenige Monate vor Beginn des 50. Jubiläumsjahres der Kapitulation schien den Verwaltern des Nationalarchivs und den einflußreichen Beamten des kaiserlichen Hofstaats offenbar die Zeit gekommen, einen der letzten Schleier um die kaiserliche Kriegsrolle zu lüften.

Keine Überraschung, aber dennoch ein Geheimnis

Bei den Stempeln handelt es sich um eine Art offenes Geheimnis: Jeder kannte die Rolle des Kaisers, offiziell dokumentiert wurde sie dennoch nicht. „Alle Historiker mußten bei Einsicht der bisher zugänglichen Heeresbefehle wissen, daß sie zum damaligen Zeitpunkt die Unterschrift des Kaisers benötigten“, versichert Kunihiko Hata, Geschichtsprofessor an der östlich von Tokio gelegenen Chiba-Universität. Insofern bestreitet der renommierte japanische Historiker, daß die zehn Bände des Verteidigungsinstituts „Überraschungen“ enthielten.

Dennoch räumt auch Professor Hata ein: „Der kaiserliche Genehmigungsstempel und die Befehlsadressaten wurden bisher nicht veröffentlicht, weil man befürchtete, daß dadurch die Verantwortung des Kaisers in der Öffentlichkeit problematisiert werden könnte.“ Mit anderen Worten: Es gab etwas zu verheimlichen, das dem Ansehen des Kaiserhauses schaden konnte.

Endgültige Aufklärung wird dem Leser freilich auch jetzt nicht gewährt. Denn die vom Kaiser genehmigten Befehle enthalten meist wenig genaue Anweisungen für die Kriegsführung vor Ort. Diese sind in den sogenannten „Tairikushi“ enthalten, die der Oberste Heeresleiter in eigener Funktion an den Generalstab erteilte. Freilich sind die Grenzen zwischen „Tairikushi“ und den kaiserlich gezeichneten „Tairikumei“ oft fließend, und gerade das verdeutlicht der neue Sammelband. Der Oberste Heeresleiter und Hirohito befanden sich im regelmäßigen Austausch, die allgemein gehaltenen obersten Befehle wurden dem Kaiser dabei stets näher erläutert. So kam es nicht selten vor, daß Hirohito seine Abneigung gegenüber Befehlen des Heeresleiters kundtat, indem er seine Unterschrift hinausschob und damit letztlich Änderungen bewirkte. Dies konnte er kaum tun, ohne den näheren Inhalt der „Tairikushi“ zu kennen.

So etwa legt ein von Hirohito gezeichneter Befehl die Aufgaben der berüchtigen „Truppe 731“ wörtlich für „Bakterien- und Krankheitsprävention“ in China fest. Hinter diesem Auftrag verbarg sich eines der scheußlichsten Kriegsexperimente in der Menschheitsgeschichte. Die Truppe entwickelte unter anderem Keramikbomben, die mit Pestläusen gefüllt waren. Durch die Wucht der Explosion wurden die Läuse weiträumig verteilt. Tausende von Chinesen kamen ums Leben. Wußte Hirohito davon?

Im Tokioter Kriegsverbrecherprozeß von 1948 einigten sich alle Seiten darauf, daß dem Kaiser nur eine formelle Verantwortung für die Kriegsführung zugesprochen wurde. Hirohito mußte deshalb nicht vor Gericht erscheinen. Das Tokioter Verteidigungsinstitut wehrt sich gegen jede Neuinterpretation der Fakten. Doch gibt es durch seine Veröffentlichung der Kaiserbefehle nicht gerade eine offene Einladung zum Beweis des Gegenteils?