Überstunden für die Hauptstadt

■ Arbeitssicherheit bleibt auf Berliner Baustellen häufig auf der Strecke / Seit Anfang des Jahres starben 15 Arbeiter / Bauboom geht häufig auf Kosten der Gesundheit der Arbeiter

Der Mann mit der Schiebermütze rollt eine Sauerstoffflasche über den Gehweg und schraubt die Sicherungskappe fest. Er ist Türke, stammt aus Frankfurt und ist seit Anfang des Monats auf der Großbaustelle Friedrichstraße. „Nein, besonderen Streß haben wir hier eigentlich nicht“, antwortet er eher unwillig auf die Frage, ob die Hektik die Arbeitssicherheit beeinträchtigt. Bevor er antwortet, dreht er den Kopf und guckt sich um, ob ihn der Polier oder ein Vorarbeiter beobachtet. „Wir haben halt Termine, die wir einhalten müssen.“

Dieser Termindruck ist es, der nach Auffassung des Landessekretärs der IG Bau-Steine-Erde Berlin-Brandenburg, Wolfgang Selle, die Arbeitssicherheit beeinträchtigt. „Das Problem ist die Hetze und die hohe Zahl der Überstunden, die den einzelnen Arbeitern abverlangt werden“, sagt Selle. Dazu komme, daß sehr viele Subunternehmer Arbeitskolonnen aus ganz Europa in Berlin arbeiten lassen. Für die sei die Arbeitssicherheit häufig zweitrangig.

Bis in die Nacht jaulen die Maschinen und drehen sich die zwanzig Kräne in der Friedrichstraße. Hier im Herzen der Stadt haben die etwa 20 von insgesamt 20.000 Baustellen in Berlin und Umgebung sich zu einer einzigen Großbaustelle vereint. Mehr als 100.000 deutsche und mindestens noch einmal so viele ausländische Arbeiter aller Gewerke machen unzählige Überstunden, um die neue Hauptstadt aus dem Boden zu stampfen.

Dabei bleibt häufig die Arbeitssicherheit auf der Strecke. Die Baubegeher vom Landesamt für Arbeitsschutz und technische Sicherheit haben in der Regel wenig Einfluß darauf, ob die Kollegen aus Portugal oder Großbritannien diese Bestimmungen einhalten. Wenn diese gar als selbständige Ein-Mann-Subunternehmer hier auftreten, bleibt ihnen die Einhaltung arbeitsschutzrechtlicher Bestimmungen selbst überlassen. Reinhard Langner, Referent für Arbeitsschutz bei der LAfA: „Selbständige können sich die Hände in Säure waschen und am Lösungsmittel riechen, solange es ihnen gefällt.“ Wenn Gewerbeaufsichtsbeamte einen Selbständigen treffen, können sie ihm nicht befehlen, einen Schutzhelm zu tragen. Lediglich wenn Dritte gefährdet werden, können Arbeitsschutzbehörden Schutzbestimmungen auch gegenüber Selbständigen durchsetzen.

Die Zahl tödlicher Arbeitsunfälle auf Berliner Baustellen hat alarmierend zugenommen: 1991 waren es insgesamt sechs Todesfälle, 1993 bereits 18. Bis Ende Oktober dieses Jahres sind bereits 15 Menschen auf Baustellen ums Leben gekommen. Zuletzt kamen auf einer Baustelle in Friedrichshain Anfang September drei Arbeiter um, als sie bei Ausschachtungsarbeiten auf eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg gestoßen waren.

Nicht gerade der typische Arbeitsunfall. Denn nach einer Statistik des Landesamtes für Arbeitsschutz und technische Sicherheit (LAfA) machen Abstürze mehr als zwei Drittel aller tödlichen Arbeitsunfälle auf Baustellen aus. Zweithäufigste Unfallursache ist der falsche Umgang mit Baugeräten, beispielsweise nicht ausreichend befestigte Lasten an Kränen und anderen Transportmitteln.

Dementsprechend richtet sich das Augenmerk der Baubegeher vom LAfA bei Baustellenrevisionen ganz besonders auf den ordnungsgemäßen Zustand und das korrekte Aufstellen von Gerüsten. Bis 31. August dieses Jahres wurden insgesamt 590 Gerüste kontrolliert. Davon mußten 24 sofort abgebaut werden, weitere 67 Gerüste wurden stillgelegt.

Im Besichtigungszeitraum wurden auch 147 Krananlagen stichprobenartig geprüft. Dabei hatte die Behörde insgesamt 48 Verstöße gegen die Arbeitsschutzvorschriften festgestellt und zwölf Kräne bis zur Mangelbeseitigung stillgelegt. In 67 Fällen wurden den Verantwortlichen gegenüber Verwarnungen ausgesprochen. Bei den Großbaustellen wie der Friedrichstraße und dem Potsdamer Platz versuchen Unternehmensgruppen vorbeugend tätig zu werden, indem sie wie Daimler-Benz Sicherheitskoordinatoren einsetzen, die auf die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften achten und parallele Arbeitsabläufe verschiedener Gewerke überwachen. Sehr zur Freude von Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD), die sich für die Durchsetzung einer noch unverabschiedeten EG-Baustellenrichtlinie einsetzt, die einheitliche und allgemeinverbindliche Sicherheitsbestimmungen im gesamten EG-Bereich vorsieht. Arbeitsschutzreferent Reinhard Langner: „Bei Baustellen im öffentlichen Bereich ist die Einhaltung der EG- Baustellenrichtlinien jetzt schon Pflicht.“ Peter Lerch