Schweizer Vorbild

■ Mohammed Dib und Sami Nair zur Situation algerischer Intellektueller und zur französischen Einwanderungspolitik

In den Texten des frankophonen Romanciers und Lyrikers Mohammed Dib klingt seit den frühen siebziger Jahren eine Vorahnung der gegenwärtigen algerischen Tragödie an. In der vorletzten Woche wurde ihm als erstem Algerier der Preis der französischen Akademie verliehen.

taz: Halten Sie die algerische Katastrophe für unausweichlich?

Mohammed Dib: Ich kann mich mit der Vorstellung eines tragischen Ausgangs nicht abfinden, aber realistisch gesehen besteht dieses Risiko. Das Ausmaß des gegenwärtigen Schreckens überfordert jedes menschliche Verständnisvermögen.

Was kann man da vom Schriftstellerparlament erwarten?

Vor allem die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die akute Gefährdung der algerischen Intellektuellen. Darüber hinaus kann das Parlament im Rahmen seiner Möglichkeiten materielle Hilfe für die Exilierten leisten.

Was halten Sie von der Initiative des Staatspräsidenten Liamine Zéroual, 1995 Wahlen abzuhalten?

Ich persönlich glaube nicht, daß in der augenblicklichen politischen Verfassung Wahlen abgehalten werden können. Wahrscheinlich kann man nicht einmal die notwendigen administrative Bedingungen für einen Wahlgang gewährleisten. Aber in jedem Fall müssen alle Algerier gleichermaßen zu einer solchen Wahl zugelassen werden.

Algerien sollte in eine Konföderation relativ autonomer Einzelprovinzen umgewandelt werden. Der Vorteil dieses föderalen Aufbaus nach dem Vorbild der Schweiz oder der Bundesrepublik liegt im Widerstand, den regionale Eigenständigkeiten dem islamischen Generalangriff auf den Staat entgegensetzen könnten. In einigen Bergprovinzen kann man Ansätze hierzu beobachten.

Wie ließe sich diese Vorstellung in der jetzigen chaotischen Situation verwirklichen?

Bisher ist die politische Opposition zersplittert. Vielleicht könnte ja diese Idee als einigende Plattform den Zusammenschluß der verschiedenen oppositionellen Gruppen erleichtern.

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Der Politologe Sami Nair beschäftigt sich mit der Lebenswelt der algerischen Einwanderer in Frankreich und ist entschiedener Kritiker der restriktiven französischen Einwanderungspolitik.

taz: Was sind die Gründe für die Zuspitzung des Konflikts in der algerischen Gesellschaft?

Sami Nair: Die tieferen Ursachen sind in einer Wirtschafts- und Sozialpolitik zu suchen, die von der algerischen Einheitspartei in der Zeit zwischen 1965 bis etwa 1980 verfolgt wurde. In fünfzehn Jahren wurde Algerien einem Industrialisierungsprozeß unterworfen, der in Europa über ein ganzes Jahrhundert dauerte. Die Folge war eine Entwurzelung weiter Teile der Landbevölkerung. Es kam zu einer scharfen Zweiteilung der Gesellschaft mit einer großen Zahl von Arbeitslosen und einer Industrie ohne Binnennachfrage. Der islamische Fundamentalismus erhält heute seine politische Triebkraft durch die ökonomisch Marginalisierten. Das Heilsversprechen der Religion erscheint den Verelendeten als letzter Schutz gegen die Aggressivität des westlichen Wirtschaftssystems.

Was könnte den Zusammenbruch noch aufhalten?

Wir müssen aus dem Teufelskreis des islamistischen Terrors und der gleichfalls blutigen Repression des Militärregimes ausbrechen. Der einzige Weg aus der Eskalation der Gewalt führt über die Eröffnung eines großen gesellschaftlichen und demokratischen Dialogs, über Verhandlungen mit allen gesellschaftlichen Gruppen. Das schließt auch freie Wahlen ein. Ein zweiter wichtiger Schritt ist die Aufhebung der ruinösen Auflagen des IWF und der Weltbank. Das ist der Beitrag, den die Industriestaaten zur Rettung Algeriens leisten müssen. Wenn Algerien den Fundamentalisten zufällt, werden die Erschütterung bis ins Herz Europas zu spüren sein. Interviews: Stefan Fuchs