Moralisches Ambiente besonderer Art

Italiens Obergericht hebt Urteil gegen Vergewaltiger eines minderjährigen Mädchens auf, weil die Tat in der betroffenen Gegend „sozial üblich“ sei / Debatte um neues Sexualstrafrecht  ■ Aus Rom Werner Raith

Da rieben sich nicht nur Frauenrechtlerinnen die Augen, und es dauerte nur kurz, bis der Aufschrei das ganze Land durchlief: Der italienische Kassationsgerichtshof, vergleichbar dem deutschen Bundesgerichtshof, hat die Verurteilung von drei jungen Männern und der Mutter eines heute zwölfjährigen Mädchens aus Ceccano südlich von Rom wegen fortgesetzter Vergewaltigung einer Minderjährigen aufgehoben.

Zwar hatte das oberste Gericht keinen Zweifel am Hergang der Dinge — die Frau hatte zugelassen und teilweise sogar gefördert, daß sich Männer aus der Verwandtschaft des Mädchens seit Jahren „bedienten“. Doch die Richter fanden, daß man bei „einem solchen Delikt auch das Umfeld berücksichtigen muß, in dem es begangen wurde“. Und das heißt nach den Worten von Richter Antonio Morgigni, daß „sich dieser Fall in einem sozialen, moralischen und kulturellen Ambiente ganz besonderer Art abgespielt hat: Der Richter hat daher die schwierige Aufgabe, sämtliche Hintergründe für das Tun der zahlreichen Mitwirkenden in diesem Falle zu werten; diese erwiesen sich allesamt eingebunden in ein von der gesamten Gemeinschaft verschiedenen gesellschaftlichen Gewebe. Keine dieser Personen — Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten — hat dazwischengehen wollen oder können, viele von ihnen haben im Gegenteil geradezu aktiv zur Entstehung dieses verkrüppelten Klimas beigetragen, in dem die sexuellen Beziehungen ausschließlich oder nahezu ausschließlich vom Instinkt geleitet werden.“

Daher seien die Vergewaltiger nicht schuldfähig, weil sie nicht wüßten, was sie tun. Das Mädchen kann in diesem Zusammenhang, so die Richter, „gar nicht wissen, was normale sexuelle Beziehungen sind“ und hat insofern auch „keine Vergewaltigung erlitten“. Daß dieses Urteil ein Freibrief werden könnte für unzählige andere Taten, liegt auf der Hand. „Damit ist per Gesetz die ‘natürliche Vergewaltigung' entstanden“, urteilt il manifesto. In la Repubblica entsetzte sich die Anthropologin Gioia Longo darüber, daß die Richter, „statt jenen, die für dieses heruntergekommene Ambiente verantwortlich sind, eine Mitschuld zuzuschreiben, gesetzlich streng verbotene Handlungen nun zur sozusagen ‘ganz normalen Tätigkeit' werden lassen.“

Die Richter „hatten sicher gute Gründe“

Allerdings gibt es in Italien nicht nur Kritik am Urteil: Der auch im Ausland bekannte Schauspieler Nino Manfredi („Die nackte Frau“), der aus der Gegend des Tatorts stammt, befand, daß „das Gericht sicher seine guten Gründe hatte, so zu beschließen“, will aber seither keine weiteren Kommentare mehr geben.

Voll zufrieden äußert sich dagegen der Anwalt der drei vordem zu drei Jahren und vier Monaten verurteilten Vergewaltiger, ein Senator der rechtsradikalen Nationalen Allianz: Das Urteil bedeute, so Romano Misserville, „eine historische Wende, weil es erstmals statt starrer Durchsetzung von Vorschriften der ambientalen Komponente absolute Priorität gibt.“

Tatsächlich könnte das Urteil, so jedenfalls einige Vertreterinnen von Frauenverbänden, auch seine positive Wirkung haben: Seit mehr als zwanzig Jahren wandert ein neues Sexualstrafrecht zwischen Ausschüssen und Kommissionen der beiden Häuser des italienischen Parlaments hin und her. Vergewaltigung und andere Sexualdelikte werden im Lande noch immer nicht als Körperverletzung oder als Verletzung der Unversehrtheit der Person verfolgt, sondern ausschließlich als „moralisches Vergehen“. Vor knapp acht Jahren schien eine Neuordnung des Bereichs unmittelbar bevorzustehen, weil sich seinerzeit die im Parlament sitzenden Frauen über die Parteigrenzen hinweg zu gemeinsamem Handeln entschlossen hatten. Doch zuletzt scheiterte das Gesetzeswerk dann an der Frage strafrechtlicher Einschätzung der Vergewaltigung in der Ehe.

Jetzt hoffen die Frauenverbände, das Thema endlich wieder auf die Tagesordnung setzen zu können. Ganz sicher sind sie sich aber auch diesmal nicht, ob das am Ende etwas bringt: „Vielleicht“, so eine Jugendrichterin, „ist es weniger das ‘ambientale Klima' bei den Vergewaltigern, das hier in den Vordergrund geschoben wird, sondern eine Rückwärtswende der gesamten Justiz, die eher das ‘politische Klima' enthüllt, das sich da neuerdings wieder ausbreitet.“