Demontage eines „linken Säulenheiligen“

■ Lutz Görner kommt mit neuem Tucholsky-Programm ins Ernst-Waldau-Theater und zeigt den 20er-Jahre-Journalisten als schwierigen Mann: eitel, aggressiv und zweifelnd

Er war ein tablettenabhängiger Alkoholiker, und seine Biographie weist mehr Brüche auf, als seine Fans wahrhaben wollen: Kurt Tucholsky.

Grund genug für Lutz Görner, Deutschlands wohl erfolgreichsten Gedichte-Rezitator, ihn sich wieder einmal vorzunehmen: Tucholsky, den ,,linken Säulenheiligen“, der immer politisch aktuell und geradezu der Inbegriff für politisches Kabarett war. Und den Tucholsky, der, so Görner, für ,,arbeitslose NS-Schaupieler von Grete Weiser bis Heinz Rühmann“ unpolitisch und vor allen Dingen witzig genug war, ihn ,,pausenlos“ auf die Bühne zu bringen. Heute gastiert Lutz Görner zusammen mit dem Gitarristen Oliver Steller im Bremer Ernst-Waldau-Theater.

In dem neuen Programm spürt er die biographischen Bezüge in Tucholskys Werk auf (Görner: ,,Keine Angst vor bekannten Texten“) und reißt den Schleier der Verklärung vom Leben des Dichters. Dabei kommen schmerzhaft unedle Züge zutage. Der bestbezahlte Journalist der Weimarer Republik muß ein schwieriger Zeitgenosse gewesen sein, eitel und aggressiv, voller Scham und nagendem Selbstzweifel. Erst die neue Tucholsky-Biographie des Oldenburger Germanistik-Professors Michael Hepp habe diese Sicht auf den Dichter möglich gemacht, sagt Görner. Es ist die erste Biographie, die ohne Rücksicht auf Tucholskys Frau und Nachlaßverwalterin Mary Gerold, nach deren Tod, veröffentlicht wurde. Sie entlarvt Tucholsky nicht nur als einen, der es sich im Krieg bequem machte, sondern erhebt berechtigte Zweifel am Mythos vom Selbstmord.

Lutz Görner, der in diesem Jahr sein zwanzigstes Bühnenjubiläum feiert, seit vielen Jahren nach Bremen kommt und etliche Male das Theater am Goetheplatz gefüllt hat, hofft, im Ernst-Waldau-Theater einen neuen Auftrittsort gefunden zu haben. ,,Seit die Stadttheater verarmt sind“, hat er festgestellt, ,,sind Gastspiele schwierig geworden“. Aber schließlich komme er gerne nach Bremen, obwohl er genügend feste Standbeine in Nordrhein-Westfalen und Auftrittsorte überall in Deutschland hat. Seit 1992 leitet Görner sein eigenes ,,Reziteater“ am Neumarkt in Köln. Seit fast zwei Jahren hat Görners ,,Lyrik für alle“ einen festen Sendeplatz bei 3Sat. Inzwischen sind es Hunderttausende, denen er ,,half“ die Meisterwerke deutscher Dichtkunst neu zu entdecken (seine CDs sind die ,,Renner“ im Deutschunterricht). Aber er schreckte auch vor Marx und der Bibel nicht zurück. Die Programme für die nächsten Jahre hat er schon im Kopf: Nach Else-Lasker-Schüler sind Ringelnatz, Morgenstern, Fontane und Brecht fest eingeplant.

Beate Ramm