Handel über den 38. Breitengrad hinweg

■ Südkorea hebt das seit fast 50 Jahren bestehende Handels- und Investitionsembargo gegen den Norden der Halbinsel auf / Gemeinsame Projekte sollen schon im nächsten Jahr angegangen werden

Seoul (AP/dpa/taz) – Eines Tages, so der immer wiederkehrende Alptraum der politischen und wirtschaftlichen Führung in Südkorea, gibt es im Norden einen Hungeraufstand oder einen Putsch. Und dann müsse man sich mit einem bankrotten System zusammentun und 20 Millionen Nordkoreaner durchfüttern.

Daß dieses Szenario Wirklichkeit wird, kann nur verhindert werden, wenn Südkorea und der Westen der nordkoreanischen Wirtschaft rechtzeitig unter die Arme greifen – darüber sind sich die Korea-Experten einig. Gestern kündigte Südkoreas Präsident Kim Young Sam nun an, daß sein Land den ersten Schritt zur Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder gemacht hat: Geschäftsleute seines Landes dürfen jetzt offiziell in Nordkorea investieren und mit dem Nachbarn Handel treiben. Das seit fast 50 Jahren bestehende Embargo ist damit aufgehoben. Der koreanischen Öffentlichkeit versprach Kim in einer live vom Fernsehen übertragenen Ansprache, daß dies nur ein erster Schritt zur wirtschaftlichen Normalisierung sein soll. Beide Staaten sollten zusammenarbeiten, um gemeinsam eine Schlüsselstellung in der Region zu erreichen, sagte er.

Um dieses Ziel zu erreichen, müßten die Regierungen in Seoul und Pjöngjang sich zunächst auf ein Rahmenabkommen über einen beschleunigten Ausbau von Handel und Investitionen einigen, schlug Kim vor. „Die Beziehungen zwischen Nord- und Südkorea sollten fortan kreativ und pragmatisch angegangen werden.“ Bereits im kommenden Jahr sind die ersten gemeinsamen Projekte anvisiert.

Nach Angaben aus Regierungskreisen sollen südkoreanische Unternehmen dazu ermutigt werden, im Norden Vertretungen einzurichten. Dafür dürfen sie zunächst bis zu fünf Millionen Dollar investieren. Geschäftsleute würden die Erlaubnis erhalten, nach Nordkorea zu reisen und dort die notwendigen Verhandlungen zu führen, hieß es.

Indirekte Handelsbeziehungen zwischen den miteinander verfeindeten koreanischen Staaten, die vor allem über Hongkong, aber auch andere Drittländer abgewickelt wurden, bestehen schon seit langem und weiten sich stetig aus. Belief sich das Handelsvolumen im Jahr 1983 noch auf nur etwa eine Million Dollar, so waren es in den ersten acht Monaten dieses Jahres bereits 232 Millionen.

Kurz vor der Mitteilung Kims war in Seoul bekanntgeworden, daß Nordkorea südkoreanische Industrievertreter zu Gesprächen über Investitionen gebeten hat. Eingeladen wurden den Berichten zufolge der größte südkoreanische Mischkonzern Samsung und andere Unternehmen, die Fabriken in Nordkorea eröffnen oder die Federführung bei Entwicklung und Bau von Tourismus- oder Industrieprojekten erhalten sollen.

Der südkoreanische Präsident erklärte gestern auch, er hoffe, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit eine allgemeine Annäherung bringen werde, die eine Zusammenführung seit Jahrzehnten getrennter Familien möglich mache und schließlich in der Wiedervereinigung mündet. Für die in Südkorea inhaftierten politischen Gefangenen, die wegen pro-nordkoreanischer Äußerungen verurteilt wurden, gibt es nun vielleicht auch Hoffnung auf eine politische Liberalisierung. li