„Ohne Wahrheit gibt es keinen Frieden“

■ Im Interview mit der taz verspricht Richard Goldstone, daß sich das Den Haager Tribunal keinem politischen Kalkül beugen wird. Auch gegen Karadzic würde er Anklage erheben.

taz: Das Verfahren gegen Dušan Tadić ist das erste überhaupt, zwei Jahre nachdem das Tribunal in Den Haag etabliert wurde. Alle weiteren Anklagen richten sich bisher ausschließlich gegen Personen, die in Westeuropa inhaftiert sind. Belgrad hat die Auslieferung serbischer Staatsbürger unter Berufung auf die Verfassung verweigert. Zagreb hat Ihnen zwar Kooperation versprochen – aber bisher ist dort niemand als Kriegsverbrecher in Untersuchungshaft.

Richard Goldstone: Das humanitäre Völkerrecht ist gültig für alle existierenden Justizsysteme. Mord, Vergewaltigung oder Folter gelten überall als strafwürdig – in allen Systemen und in allen Religionen. Neben der Anklage gegen Tadić werden wir in den nächsten Wochen und Monaten immer dann weitere Anklageschriften vorlegen – gegen die Hauptschuldigen –, wenn wir ausreichend Beweise gesammelt haben.

Wir werden keine Rücksicht darauf nehmen, wer die Beschuldigten sind. Und wir gehen davon aus, daß alle Staaten ihre internationalen Verpflichtungen erfüllen werden. Das schließt die Auslieferung von Personen an das Tribunal ein. Wenn dies eine Veränderung nationaler Verfassungen voraussetzt, dann müssen diese Verfassungen eben geändert werden. Und wenn die Verfassung Rest-Jugoslawiens tatsächlich die Auslieferung von Staatsbürgern verbietet, so ist das unter Gesichtspunkten des internationalen Rechts irrelevant.

Und wenn ein Staat diese völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht erfüllt?

Dann werden die Zwangs- und Sanktionsmaßnahmen ergriffen, die für diesen Fall im Beschluß des Sicherheitsrates zum Tribunal sowie in dessen Statuten vorgesehen sind.

Können Sie richtig ermitteln? Sind Ihnen im UNO-Haushalt nicht völlig unzureichende Mittel zugesprochen worden?

Für das laufende Jahr haben wir noch ausreichend Finanzen. Aber für 1995 brauchen wir etwa doppelt soviel Geld wie dieses Jahr, um 50 weitere dringend benötigte Ermittler anzustellen. Ich hoffe, daß uns diese Gelder von der UNO oder von Einzelstaaten zur Verfügung gestellt werden.

Im Dezember 1992 – einen Monat nach Etablierung des Tribunals – verkündete der damalige US-Außenminister Lawrence Eagleburger in Genf öffentlich, daß Serbiens Präsident Slobodan Milošević, der bosnische Serbenführer Radovan Karadžić und dessen Oberkommandierender General Ratko Mladić an der Spitze der Angeklagtenliste stehen müßten. Davon ist inzwischen längst auch in Washington keine Rede mehr. Es gibt Signale an serbische Führungspersonen, daß sie von dem Tribunal nichts zu befürchten hätten – weil sie für die Umsetzung des Friedensplans der Kontaktgruppe gebraucht werden. Es ist sogar von Amnestie die Rede. Werden Sie Personen auf höchster politischer und militärischer Ebene anklagen?

Wenn wir die Beweise erhalten, dann werden wir anklagen – unabhängig von Positionen. Das versichere ich Ihnen. Wir bemühen uns zur Zeit um die Sammlung von Indizien, mit denen sich Befehlsstrukturen und übergeordnete Verantwortlichkeiten nachweisen lassen. Das Tribunal ist nicht an irgendwelche politischen Vereinbarungen gebunden. Eine Amnestie bindet dieses Tribunal nicht.

Hat es Versuche gegeben, Sie oder die Richter von der Untersuchung gegen bestimmte Personen abzuhalten oder laufende Untersuchungen abzubrechen?

Überhaupt nicht. Und wenn das jemals passieren sollte, werden Sie davon erfahren.

Zunächst hat auch Ihr Vorgänger und jetziger Stellvertreter Blewitt immer wieder erklärt, daß Verfahren vor nationalen Gerichten Vorrang hätten, solange Vertrauen in die Unabhängigkeit der jeweiligen nationalen Justiz besteht. Dies wurde für Deutschland immer ausdrücklich bejaht. Warum haben Sie jetzt die Auslieferung von Tadić beantragt?

Nach seinen Statuten und Verfahrensregeln ist das Tribunal einerseits zwar gleichberechtigt mit nationalen Gerichten. Zugleich haben wir nach diesen Regeln aber auch das Recht, zu entscheiden, ob das Verfahren gegen eine bestimmte Person statt vor einem nationalen Gericht besser vor dem internationalen Tribunal stattfindet. Wegen unseres begrenzten Ermittlungspersonals können wir nicht jeden der Tausenden von Fällen von Kriegsverbrechen untersuchen, sondern müssen uns konzentrieren. Wir haben bereits erhebliche Zeit und Aufwand in die Untersuchung der Ereignisse in Prijedor investiert – vor allem im Lager Omarska und in anderen Lagern in dieser Region. Der Tadić-Fall hat mit Omarska zu tun.

Mit welcher Intensität wird das Tribunal die Vergewaltigungen und andere an Frauen begangene Kriegsverbrechen untersuchen? Angesichts der bisherigen Nachlässigkeit der internationalen Gemeinschaft bei der Verfolgung derartiger Verbrechen gibt es hier Zweifel vor allem bei Frauen- und Menschenrechtsorganisationen.

Diese Frage verdient allerhöchste Aufmerksamkeit und wird sie auch erhalten. Das versichere ich Ihnen. Das Tribunal ist in der einzigartigen Situation, sich gründlich mit diesem Rechtsgebiet zu befassen, das in zu vielen Ländern nicht so gründlich behandelt wird, wie das nötig ist.

Neben Ex-Jugoslawien wird jetzt auch die Einrichtung eines Tribunals für Ruanda erwogen – möglicherweise als 2. Kammer des Tribunals in Den Haag. Können derartige Tribunale einen Beitrag leisten zur Versöhnung zwischen den Konfliktparteien?

Ohne Wahrheit und Gerechtigkeit wird es keinen dauerhaften Frieden geben. Zumindest die Hauptverantwortlichen sollten zur Rechenschaft gezogen werden. Zudem haben derartige Tribunale eine wichtige Abschreckungsfunktion. Es gibt inzwischen einen eindrucksvollen Katalog von humanitären Völkerrechtsbestimmungen. Doch seit den Nürnberger Prozessen fehlt es an Mechanismen zur Durchsetzung. Gesetze ohne Durchsetzungsmechanismen sind nicht mehr wert als das Papier, auf dem sie geschrieben stehen.