Die anderen Trümmerfrauen

Die Orwo-Werke in Wolfen werden von ihren ehemaligen Arbeiterinnen demontiert / Kleinbetriebe siedeln sich an  ■ Von Ruth Westerwelle und Angelika Behnk

„Die Film“, sagen die ArbeiterInnen noch heute. Die Film, das sind die Orwo-Werke in Wolfen in Sachsen-Anhalt. Früher waren hier mehr als 15.000 Werktätige beschäftigt, über 8.000 von ihnen Frauen. Früher, das war vor der Wende. Jetzt sind nur noch 750 übriggeblieben. Dazu kommen 2.800 Leute, überwiegend Frauen, die unter dem Dach einer Beschäftigungsgesellschaft im „ökologischen Rückbau“ tätig sind – eine andere Bezeichnung für systematische Demontage.

„Zuerst kommen die Männer für die schweren Abbauten“, erzählt Petra Fischer*, „dann machen wir Frauen den Kleinkram, abmontieren, auseinanderschrauben, alle Materialien in die entsprechenden Sammelbehälter.“ Petra Fischer hat früher als Chemielaborantin in der Forschung gearbeitet. Sie hat daran zu knapsen, daß ihre tägliche Arbeit jetzt darin besteht, jeden Tag mehr von den ehemaligen Arbeitsplätzen abzubauen und zu „entsorgen“. Anfangs hat die Mitfünfzigerin, die statt Laborkittel jetzt Blaumann trägt, versucht, sich und den anderen Mut zu machen. „Guckt mal, habe ich den anderen gesagt, wir haben noch soviel Arbeit. Wer soll denn den Dreck wegräumen, das können doch nur wir“, erzählt sie. Manchmal aber kommen ihr Zweifel am Sinn dieser Tätigkeit, dann wünscht sie sich den Vorruhestand.

Da ist Eva Käfer* bereits angekommen. Sie war wegen ihres Alters 1990 eine der ersten, die entlassen wurden. Mehr als 40 Jahre hat sie bei Orwo gearbeitet, zuletzt als Prüferin in der Filmaufbereitung. Drei Monate nach der Entlassung hat sie ihr Werk noch einmal besucht – ein Moment, der ihr gut in Erinnerung geblieben ist: „Da konnte ich nicht sprechen, das kam wie ein Anfall, da konnte ich nur noch heulen. Auf einmal wurde ich nicht mehr gebraucht.“

Mittlerweile hat sich Eva Käfer an ihre Situation gewöhnt, nutzt die freie Zeit zum Reisen. Mit dem Seniorenpaß der Bahn erkundet sie Westdeutschland. Und dann gibt es noch die billigen Kaffeefahrten, auf denen sie stets ehemalige Orwo-KollegInnen trifft.

Das Werk verschwindet derweil langsam, überall liegen monströse Maschinenteile herum. Den Ostschrott entsorgt eine Westfirma namens „Westschrott“. Überall knarrt und klappert es. An einigen Stellen hat sich die Natur bereits Terrain zurückerobert, was beinahe vergessen läßt, daß hier einst im großen Umfang mit Chemikalien hantiert wurde. „Wenn es von der Decke tropfte“, erzählt eine der Orwo-Frauen, „war das kein Wasser.“

Schon lange vor der Wende fehlten die Mittel, um das Werk instand zu halten, überfällige Reparatur- und Wartungsarbeiten auszuführen. Seit 1983 ging es kontinuierlich bergab, immer wieder ließen Versorgungsengpässe und Maschinenschäden die Produktion stocken. Direkt nach der Wende war der letzte Fünfjahresplan für Orwo erstellt worden, dann wurde die Filmfabrik zum Treuhandbetrieb und schließlich 1992 in die Filmfabrik GmbH und in eine Vermögensverwaltung aufgespalten. Die GmbH, die noch immer produziert, übernahm die modernen und neuen Gebäude. Den größeren Teil des Werkes betreut die Vermögensverwaltung – mit der Aufgabe, die Anlagen abzureißen. Im Mai dieses Jahres kam das endgültige Aus, gab die Treuhand die Abwicklung der Filmfabrik GmbH bekannt.

Der letzte Strohhalm, an den sich Werksführung und Belegschaft jetzt noch klammern, heißt Teilprivatisierung. Damit ließen sich nach Aussage des Liquidators Gordon Rapp bis zu 350 Arbeitsplätze in der Produktion erhalten. Der Erfolg dieser letzten Initiative steht heute jedoch noch in den Sternen.

Noch sind Teile der alten Infrastruktur vorhanden, Bahnanschluß, Arztpraxis, Bücherei, Sparkasse – auch der Friseur und die Kaufhalle vorm Werkstor. Orwo, das war eine eigene kleine Stadt, die besonders Frauen einige Vorteile bot. Alltägliche Besorgungen ließen sich vor Ort erledigen, die Kinderbetreuung war gesichert, es gab spezielle Kulturangebote und Frauenruheräume.

Obwohl auch hier der Frauenanteil in den oberen Hirarchieetagen ganz klar geringer war als in den unteren, gab es deutlich mehr Frauen in Leitungspositionen als im DDR-Durchschnitt. Eine Frau stand sogar ganz an der Spitze: Brunhilde Jaeger war fast zwei Jahrzehnte lang Leiterin des Mammutkonzerns, eine der drei Generaldirektorinnen in der Geschichte der DDR. Heute ist die 57jährige im Vorruhestand.

Dafür ist Marianne Schulz* noch zu jung. Sie hat die Wende genutzt, um etwas Neues aufzubauen. Zuletzt war sie bei Orwo Fachdirektorin für das Sozialwesen. Wie alle anderen auch, hatte sie anfangs geglaubt, daß Orwo nach der Wende weiterexistieren würde. Sie arbeitete sich in das westdeutsche Sozialversicherungssystem ein, führte zahlreiche Gespräche mit Vertretern der Ersatz- und Betriebskrankenkassen. Anfangs hat die 42jährige Tag und Nacht gearbeitet, um die ArbeiterInnen ins neue Versicherungssystem zu integrieren und die Betriebskrankenkasse Orwo/Wolfen zu installieren. Heute ist sie Geschäftsführerin der BKK. Selbstverständlich war das nicht. Bis zuletzt blieb offen, wer die Leitung übernimmt. „Ich wollte die Chance wahrnehmen. Und da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gesagt, was ich will.“

Neben ihr haben auch diverse andere Frauen zugegriffen. Jetzt, wo Teile des Geländes aufgeräumt, die wenigen kontaminierten Flächen abgesperrt sind, und brauchbare Gebäudeteile besenrein einer neuen Nutzung harren, beginnen sich neue Kleinbetriebe anzusiedeln. Bisher 130 Kleinbetriebe mit 2.700 Beschäftigten sind hier zu finden. Darunter auch eine Handvoll ehemals bei Orwo beschäftigte Frauen, die sich mit Unterstützung des deutschen Unternehmerinnenverbandes selbständig gemacht haben. Gemeinsam mit anderen Unternehmerinnen der Region tauschen sie sich einmal im Monat am Stammtisch in Dessau aus, geben sich gegenseitig Tips und knüpfen Geschäftsbeziehungen. „Schließlich“, so die Dessauer Standortleiterin des Verbandes, Brigitte Krappe, „müssen ja nicht alle dieselben Fehler machen.“

Eine der Frauen, die sich selbständig gemacht haben, ist Brigitte Jahr. Sie ist Chefin der Wolfener Umweltanalytik GmbH, bei der 48 Frauen und fünf Männer Boden-, Wasser- und Luftanalysen machen. Das Engagement im Unternehmerinnen-Verband hält sie für sehr wichtig: „Früher war die Orwo generell ein Frauenbetrieb. Aber wenn die Ware Arbeit sehr knapp ist, so wie jetzt, dann bleiben die Frauen zuerst außen vor. Da ist es gut, wenn man Interessen artikulieren und durchsetzen kann.“ Die jetzige Situation vergleicht sie mit der Verdrängung der Frauen aus dem Arbeitsleben in der Nachkriegszeit. „Wir sind die anderen Trümmerfrauen.“

Westerwelle und Behnk arbeiten im Rahmen eines Forschungsstipendiums des Berliner Senats an einer Dokumentation über die Geschichte der Frauen bei Orwo.

*Namen geändert