Ein Leben unter Kolonialherren

Wie ein Sklave kam sich der Angolaner Silva dos Canga vor, der drei Monate lang von seinen deutschen „Freunden“ gequält und entwürdigt wurde. Weglaufen? Wohin? Als Schwarzer allein in Potsdam?  ■ Von Annette Rogalla

Sie holen ihn aus dem Asylbeweberheim und versprechen viel. Arbeit soll er bekommen, eine Wohnung. Das Leben in Deutschland soll wieder so werden, wie er es kennengelernt hat, als er 1988 mit 18 Jahren als angolanischer Vertragsarbeiter in die DDR kam. Silva dos Canga vertraut den beiden Freunden aus dem fernen Potsdam, die mit ihrem Auto vor der Tür stehen. Besonders mit Andreas T. fühlt er sich verbunden. Gemeinsam hatten sie damals im VEB Elektrowerk Belzig gearbeitet. Manchen Sonntag hatte er Andreas zum Gottesdienst der neuapostolischen Kirche begleitet. Dort lernte er auch Christian G. kennen, den Organisten. Nach der Wende fürchtete Silva, nach Hause in den Bürgerkrieg abgeschoben zu werden. Er bat um Asyl und wurde nach Baden-Württemberg verschickt, seine Freunde aus der DDR verlor er aus den Augen.

Jetzt haben Andreas und Christian ihn gesucht und wiedergefunden. Silva freut sich. Auf der Fahrt nach Potsdam sagt er zu den beiden: Ihr seid meine neue Familie. Seinen Vater und die Mutter in Angola hat er im Krieg verloren.

Nichts von dem, was er auf der Rückbank des Autos träumt, erfüllt sich. Drei Monate, von Oktober bis Dezember 1992, durchlebt er einen Alptraum. In Potsdam angekommen, befehlen ihm die Freunde, nicht aus dem Haus zu gehen, lassen sich von ihm den Haushalt führen, in weißen Handschuhen bedienen. Einmal muß er ihre Lust auf Sex stillen.

Aus Freunden sind Herrenmenschen geworden. Einen willfährigen Vollstrecker findet das Paar in Ingo S. Er schlägt Silva, wenn der den Anweisungen der beiden nicht folgt.

Seit vergangener Woche verhandelt die Jugendkammer beim Landgericht Potsdam gegen den Industriekaufmann Andreas T. (31), den Anstreicher Christian G. (21) und den Hilfsarbeiter Ingo S. (20). Sie müssen sich wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung und sexueller Nötigung verantworten. Andreas T. streitet am ersten Verhandlungstag alle Vorwürfe ab, Ingo S. gesteht alles, Christian G. schweigt.

Der zweite Prozeßtag beginnt dramatisch. In der Nacht zuvor hat sich Andreas, der am ersten Verhandlungstag mit seinem pomadierten Seitenscheitel und dem grauen Anzug aussah wie ein kleiner Handelsreisender, das Leben genommen. Christian findet den Lebensgefährten aufgeknüpft in der gemeinsamen Wohnung. In einem Abschiedsbrief beteuert Andreas noch einmal seine Unschuld, die Presse habe ihn getötet. Bleich und zitternd erscheint Christian im Gerichtssaal. Sein Anwalt bittet, den Prozeß einen Tag auszusetzen, aber Richter, Beisitzerin und die beiden Schöffinnen entscheiden, das Verfahren gegen den toten Andreas T. einzustellen und weiterzuverhandeln.

Damals, 1992, auf der Fahrt von Stuttgart nach Potsdam, bekommt Silva zum ersten Mal Angst vor Deutschen. Während einer Rast in Thüringen umkreisen plötzlich Skinheads das Auto, erspähen den dunkelhäutigen Mann und schlagen sofort blindwütig die Autoscheiben ein. Geistesgegenwärtig startet Andreas und gibt Vollgas. Sie suchen Schutz in einer nahen Jugendherberge, doch der Herbergsvater verweigert die Aufnahme. Er habe Kinder im Haus, was, wenn die Skinheads herkämen? Andreas fährt zur Polizei. Die protokolliert den Überfall, nach Vorschrift. Mehr tut sie, soweit man weiß, nicht.

In Potsdam angekommen, wird Silva zunächst in der leeren Wohnung von Christian – der bei Andreas lebt – untergebracht. Eingesperrt war er, sagt er vor Gericht. Ein Nachbar dagegen bezeugt, ihn auch allein auf der Straße gesehen zu haben. Eines Nachts tritt jemand die Wohnungstür ein.

Das Gericht fragt nicht, ob es vielleicht die Angeklagten selbst waren. Jedenfalls holen sie ihn anderntags ab, sagen, er sei dort nicht mehr sicher. Silva lebt jetzt mit Andreas und Christian in einem kleinen Hinterhaus der Potsdamer Innenstadt. Allein. Nun können sie über ihn verfügen, ohne Zeugen. Sie leben in der dritten Etage, für Silva ist ein Zimmer in der zweiten hergerichtet. Alle Fenster und Türen sind verschlossen, Haustür und die Kellertür ebenfalls.

„Sie haben mir verboten, auf die Straße zu gehen, es könnten wieder Skinheads kommen.“ Silva verbringt die Tage in der Stille seines Zimmers. Wenn Andreas ihn ruft, räumt er auf, kocht Kaffee, wäscht die Wäsche. Schließlich will er sich als Gast erkenntlich zeigen.

Seine Gastgeber geben vor, alle Formalitäten für ihn auf den Ämtern zu erledigen, lassen sich eine Blankounterschrift geben und sagen, die Sozialhilfe würde auf ein Konto eingezahlt. Silva glaubt ihnen. Als Sklavenhalter lernt er Andreas zum erstenmal Anfang November kennen. Silva sollte ihm die Wäsche waschen. In einer Hosentasche findet er eine Goldmünze. Er will sie nicht mitwaschen und steckt sie – „ohne nachzudenken“ – ein. Andreas beschimpft ihn als Dieb. Wie ein kleines Kind wird er auf sein Zimmer geschickt. Am Nachmittag kommt Ingo S. zu Besuch, ein glatzköpfiger Freund aus der rechten Szene. Vor Gericht sagt er aus, Andreas habe ihn gebeten, er solle sich „mit dem Neger mal auf meine Weise unterhalten“. Er schlägt Silva mehrmals mit der Faust kräftig ins Gesicht, trinkt noch einen Kaffee und geht.

Am Abend findet die Quälerei ihre Fortsetzung. Andreas befiehlt Silva, ein Wasserglas mit Schnaps auszutrinken. Er muß sich auf den Boden legen, die Füße in einen Sack gestopft. Sie fesseln ihm die Hände, ziehen seine Unterhose herunter und schneiden die Schamhaare ab, dann rasieren sie ihm den Kopf. „Sie haben mich dabei auch fotografiert“, sagt Silva. Dem Gericht liegen diese Fotos nicht vor.

Bei Andreas hört sich das anders an. Ja, er habe ihn einen Dieb genannt und ihn auch ins Gesicht geschlagen. Doch abends hätten er und Christian ihn volltrunken vorgefunden. Die zuvor ungeöffnete Whiskeyflasche in der Bar sei fast leer gewesen. Sie hätten Silva genommen und unter die Dusche gestellt, jedoch sei er nicht so schnell zu sich gekommen, immer wieder habe er erbrochen. Schließlich hätten sie ihn auf einen Stuhl gesetzt und ein Lederband um Brust und Stuhllehne gezogen, damit er nicht umfalle. Scham- und Kopfhaare habe man ihm abgeschnitten, „um zu zeigen, wie man mit Spitzbuben umgeht“. Das sei „die angolanische Methode, so wie Silva sie uns erzählt hat. Am nächsten Tag haben wir nicht mehr über den Vorfall geredet.“ Selbstjustiz von Kolonialherren.

Andreas stellte Silva als willenlosen, versoffenen Schwarzen dar, der sich unterwürfig prostituiert. „Er hat sich sexuell jedem angeboten. Die Sache wurde aber nicht in Anspruch genommen.“ Nie habe er ihn zum Sex gezwungen.

Silva dagegen schildert sehr genau, wie Christian und Andreas ihn gerufen haben. Wie er zwischen den beiden im Bett lag und er sie mit der Hand befriedigen mußte. An welchem Tag das war, unter welchen Umständen, das will die Kammer nicht näher wissen. Wie auch sonst meist nicht nachgefragt wird. Die Zeugen können ausschweifend erzählen, Richter Przybilla führt nicht, unternimmt nur selten den Versuch, Präzision in die Aussagen zu bringen.

So erfährt das Gericht nicht, daß der sexuellen Nötigung eine schwarze Messe vorausgegangen war, an der Silva teilnehmen mußte. Für die obszönen Rituale wurde ein Schwarzer gebraucht; Schwarze verkörpern den Teufel, mit dem man ins Bett geht.

Schwarze Messen, Totenkult, Tischerücken – seit zehn Jahren war Andreas in Potsdam für seinen Hang zum Okkulten und Mystischen bekannt. Das Rüstzeug für die Bibelstunden, die er regelmäßig privat abhielt, holte er sich in der Neuapostolischen Gemeinde. Dort lernte er auch das rigide Geflecht aus Befehlen und Unterwerfung kennen. Kritiker aus den eigenen Reihen werfen der Religionsgemeinschaft sektenähnlichen Charakter vor, sie geriere sich noch heute in Afrika wie die Kolonialisten. Nur einer von 20 Bezirksaposteln, den höchsten Amtsträgern, ist Afrikaner, obgleich die meisten der 7,5 Millionen Mitglieder in Afrika leben. Lediglich Sambia untersteht einem eigenen Bezirksapostel, die übrigen afrikanischen Länder werden von Europa aus geleitet.

Als Silva bei Andreas und Christian einzog, gerät er gleichzeitig unter Neonazis. Andreas verehrt Adolf Hitler. „Er hielt mir oft Hitlers Bild unter die Nase und sagte: Der ist nicht tot, er kommt wieder. Ich weiß es.“ Am liebsten zeigen er und die beiden anderen sich in derben Bundeswehrhosen und Springerstiefeln.

Statt Möglichkeiten zur Flucht zu suchen, ergibt sich Silva in sein Schicksal. Er fügt sich, zeigt seine Gefühle nicht nach außen, die Torturen im Hause der Peiniger vernarben nicht seinen Körper, sie zeichnen sein Gedächtnis. Weglaufen? Wohin? In Potsdam als Schwarzer ohne Geld, da kommst du nicht weit, denkt er sich, da haben sie dich gleich. In den kommenden Wochen wird der Tod sein zuverlässiger Begleiter. Silva macht sich bereit zum Sterben. „Ich habe auf mich eingeschlagen, ich habe mich mit einem Kabel erdrosseln wollen, aber Ingo hat mich davon abgehalten.“ Selbst die Zeit des Sterbens wollen sie bestimmen.

Beim Weihnachtsurlaub in einem einsamen Bungalow in den thüringischen Bergen schikanieren Andreas, Christian und Ingo ihn, wo sie können. Er muß vor Ingo auf die Knie fallen, der zückt seine Pistole und hält sie Silva an die Schläfe. Andreas fotografiert die Szene. „Ein Spaß war das“, rechtfertigt sich der im Gerichtssaal, „Silva sollte das Bild beim Ausländeramt abgeben, damit er einen Grund hat, hierzubleiben.“ Ingo wird sich das Foto später ins Album kleben, „als Erinnerung“.

Einmal steckt Ingo eine 50-Meter-Strecke im Garten ab. Die jagt er Silva hin und her. Als der sich weigert weiterzulaufen, zielt Ingo neben seinen Fuß und drückt ab. Daß es keine scharfe Waffe ist, weiß Silva nicht.

Am Nachmittag des 24. Dezember vergißt er, den Punsch mit Handschuhen zu servieren. Zur Strafe muß er hinaus in die Kälte und sämtliche Schuhe putzen.

Die Scheinhinrichtung, der Schuß, Silva spürt sein Lebensende nahen. Aus der Todesangst schöpft er die Engerie, wegzulaufen. Der Abend dämmert schon. Als er den Wagen seiner Peiniger sieht, versteckt er sich im Garten eines Mannes, der gerade sein Auto repariert. „Hast du einen Neger gesehen?“ ruft Ingo S. ihm im Vorbeifahren zu. „Ne, hier nicht vorbeigekommen“, entgegnet der Mann. Seine Mutter holt Silva ins Haus und ruft die Polizei.

Warum hat er nicht eher zu fliehen versucht? „Ich weiß nicht. Es ging nicht“, sagt er vor Gericht und hält sich an den Ärmeln seiner Jacke fest. Das Festklammern an der äußeren Hülle – eine Geste, die sich immer wieder wiederholt. Erst später, auf dem Weg zum Flugzeug, das ihn zurück nach Stuttgart bringen wird, erzählt er den Traum, der ihn seit Potsdam ständig begleitet. „Ich schlage mein Zimmerfenster im zweiten Stock ein und springe. Ich sehe mich, wie ich unten ankomme. Ich bin ganz allein, ich rede nur mit mir. Und irgendwann begreife ich, daß ich verrückt geworden bin.“

Silva dos Canga lebt in der Nähe von Stuttgart. Er braucht dringend psychologische und finanzielle Unterstützung. Wer helfen will, kann sich an die taz wenden: (030) 25902-219