■ Wider die Selbstbezogenheit ostdeutscher Dissidenten
: Raus aus dem Pfarrgarten!

Die Lage dafür ist nicht günstig, dachte ich. Scharpings Forderung nach einem „Schlußstrich“, der Ehrgeiz der SPD, mit der jüngsten Vergangenheit so umzugehen wie die CDU in den fünfziger Jahren, das Plappern der linksliberalen Eliten im Westen und demgegenüber das desto forschere Agieren der PDS (nicht nur) im Osten. Soll man ausgerechnet in dieser Situation kritische Worte über das verlorene Häuflein der Bürgerrechtler fallen lassen? Das kenne ich noch aus der DDR: Die Lage ist niemals günstig, das Nest darf nicht beschmutzt werden, der Beifall von der falschen Seite lauert, keine Flanke darf ungeschützt sein ...

Auch wenn der Wind im Westen dem beliebten Klischee zufolge so entsetzlich kalt ist – die alte ostdeutsche Harmoniesoße könnte er ruhig einmal aufwirbeln. Ich rede von denen, denen ich mich eigentlich nahe weiß, denn sie öden mich gewaltig an. Ist die Jammermiene des ostdeutschen Bürgerrechtlers die richtige Antwort auf die Dreistigkeit der Ost-Bonzen und die Indifferenz ihrer West- Brüder? Leiden veredelt, Macht macht dumm, Geld stinkt, und Ironie ist völlig deplaziert angesichts der tragischen Situation – wie lange soll dieser Mief aus protestantischen Pfarrhäusern eigentlich noch über dem Land liegen? „Traurig bin ich sowieso“, klimpert Bettina Wegner, und Bärbel Bohley scheint aus ihrer völligen Unfähigkeit, wichtige Inhalte auch entsprechend zu transportieren, stets neue Energie zu schöpfen.

Arme Bundesrepublik. Mit den amerikanischen Panzern kam der Kaugummi, die Demokratie und die Ironie. Letztere begleitete die Alliierten wieder mit nach Hause, und die Re-Tragisierung Deutschlands ist in vollem Gange. It's nice to be worry. Daß auch im Westen, bei aller farbigen Lässigkeit, die Auseinandersetzung mit dem grauen Orwell-Staat DDR eine denkbar lasche war, steht auf einem anderen Blatt. Einem relaxten Lebensgefühl im Westen die politischen Grundlagen seiner freien Existenz klarzumachen und nötige Konsequenzen anzumahnen bedeutet noch lange nicht, ihm mit Dostojewski-Blick ganz den Garaus machen zu wollen.

Warum muß ein so integrer und luzider Intellektueller wie Jürgen Fuchs in seiner berechtigten Klage über westdeutsche Kollaboration und Gleichgültigkeit zugleich das Kind mit dem Bade ausschütten: „Als ich die vielen klugen Gedanken hier hörte, dazu bestimmt, sich fortzusetzen in Diplomarbeiten, Dissertationen, Habilitationen, progressiv und kritisch, provozierend und erklärend, begriff ich plötzlich, daß wir verloren haben.“

Was verlangt man eigentlich von der Anhörung vor einer Enquetekommission? Daß man sich dort die Haare rauft in biblischer Verzweiflung wie einst Hiob? Und was ist daran verkehrt, wenn Schulklassen dieser öffentlichen Anhörung „lachend, tuschelnd, mitschreibend“ folgen? Hier ist der Punkt, wo ich allergisch werde und moralische Erpressung vermute, Einschwören auf Traurigkeit statt auf rationalen Diskurs, östliches Gefühl gegen westliche Analyse. Anstatt froh zu sein, daß eine neue Generation freier heranwächst, wird quasi eine Fortführung des alten Seelenzustandes aus Angst, Empörung, Zorn und Widerstand gefordert.

Das Ergebnis davon können wir jeden Tag besichtigen: Überdruß der Jüngeren an der Vergangenheit und Sympathie für die clever agierenden PDS-Trommler. Die Stärke der Vergangenheitsverdränger resultiert nicht zuletzt auch aus dem biersauren Moralismus ihrer Opponenten, die Widerstand und Dissidenz genauso aussehen lassen wie Bärbel Bohleys verheultes Gesicht.

Brechtsche Kargheit und Rotweintrinken mit Robert Havemann als Gipfel epikureischen Lebensgenusses – damit lockt man heute keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Wie konnte man nur die immense innerliche Befriedigung, die es bedeutet, den DDR- Muff durchzulüften, zu etwas so Tränenseligem und Defensivem machen? Man hat zugelassen, daß die Gegner der Dissidenten deren Forderungen nach Gerechtigkeit und Erinnerung als Privatmarotte einer kleinen Schar Auserwählter herabwürdigen. Stolz hockt man im Abseits und kommentiert grimmig die teilweise selbstverschuldete Marginalisierung, unterschreibt sich gegenseitig Appelle und Resolutionen, dreht sich im Kreis und läßt das intellektuelle Niveau weiter gegen Null gehen.

Was hat man denn anzufangen gewußt mit all den West-Intellektuellen, denen das Thema nicht gleichgültig war? Peter Schneider, Cora Stephan, Henryk Broder, Claus Leggewie, Thomas Schmid, Daniel Cohn-Bendit, Wolf Lepenies – in der Beschäftigung mit der Stasi-Debatte stellten sie sich auch ihrer eigenen Vergangenheit, den Fragen von Utopie und Repression, der Blindheit der Linken gegenüber dem Realsozialismus. Die Ossis sahen's mit Freudentränen in den Augen. Auf den Gedanken, ihre Gesprächspartner über den Westen auszufragen, über Postmoderne und bröckelnde Ganzheitsvorstellungen, über Immigration und Integration, über demokratischen Alltag oder Multikulturalität; auf diesen Gedanken kam fast keiner von ihnen. Man versäumte die Chance, verschiedene Erfahrungen zu bündeln. Zu viele Dissidenten sitzen mental noch immer in ihrem ostdeutschen Pfarrgarten und verteilen weiterhin unverdrossen die Kopien verbotener Gedichte. Vielleicht sollten sie sich nicht nur an die Zeit erinnern, als „Westbücher“ verboten waren, sondern nun die Chance nutzen, diese Bücher auch zu lesen. Ob Saul Bellow oder Cees Nooteboom – man würde begreifen, daß man gut und gerne mit tausend Aspekten menschlicher Existenz beschäftigt und offen sein kann, den gebrochenen ironischen Blick pflegen darf und trotzdem engagiert ist. Denn wer um die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Lebens weiß, wird hellhöriger gegenüber jeder Uniformität.

Liebe Dissidenten, eure Erfahrungen sind die Erfahrungen dieses Jahrhunderts, aber es sind nicht die einzigen. Es besteht keine Verpflichtung, bereits mit Vierzig zum Verwalter der eigenen Erinnerungen zu werden und rhetorisch- emotionale Versatzstücke von sich zu geben, nach deren hundertster Wiederholung man nur noch gähnen kann. Es verlangt ja niemand, daß alle Betreffenden nun sofort ihre drögen Ostkleider von sich werfen, um wie der schöne Bernard-Henri Lévy mit offenem Hemd hinreißend eitel vor jeder verfügbaren Fernsehkamera zu posieren. Schon aus ästhetischen Gründen gäbe es da wohl einige Barrieren, aber etwas weniger verdruckst und beleidigt dürfte es auch in Deutschland sein. Auch wer von der Stasi einst vom Uni- Studium relegiert wurde, kann wissen, wo Sarajevo und Algier liegen, und kann seine eigenen Erfahrungen einbringen in den weltweiten Kampf für Menschen- und Bürgerrechte. Oder ist das auch alles kein Thema, „Nebenwidersprüche“ sozusagen, durch die man sich im eigenen Autismus nicht stören lassen will? Marko Martin

Marko Martin, geboren 1970, lebt als freier Autor in Berlin und Paris. Jüngste Buchveröffentlichung: „Mit dem Taxi nach Karthago. Reiseprosa, Gedichte, Essays“. W. Schwarz Verlag, Heidelberg