Wachwelt, traumunterwandert

■ Jan Švankmajer kommt zu seinem „Faust“-Film ins Tschechische Zentrum

Den Surrealismus irgendwie altmodisch zu finden mag westlich gedacht sein, denn es gibt immer noch Gegenden, wo er noch nicht zum Etikett einer beliebig tauschbaren Kulturware wurde. Prag ist die Heimat der letzten existierenden Surrealistengruppe, die stolz darauf ist, noch durch André Breton abgesegnet worden zu sein.

Universale Manipulation

Seit 1970 ist auch der 59jährige Regisseur Jan Švankmajer Mitglied dieser Gruppe, deren Aktivitäten in der ČSSR mehr oder weniger behindert wurden. Im Westen wurde der als scheu geltende Filmemacher vor allem durch seinen Kurzfilm „Dimensionen des Dialogs“, der auf der Berlinale 1983 den Goldenen Bären gewann, sowie durch seine „Alice im Wunderland“-Verfilmung bekannt.

„Faust“ ist der dreißigste Film von Švankmajer. Sein Hauptthema sei die Manipulation, sagt er, wobei er unter Manipulation nicht nur die Propaganda totalitärer Systeme begreift, sondern auch die Mechanismen einer „freien“ Marktwirtschaft, die sich für den Gipfel und Endpunkt humaner Gesellschaftsorganisation hält und dabei übersieht, daß sie ohne die Arbeit ihrer privaten Propagandamaschinerie – der Werbung – vermutlich zusammenbrechen würde.

In Švankmajers „Faust“ geht es nicht so sehr um den einzelnen, der gegen das entfremdete Glück der vielen Fügsamen heroisch revoltiert, sein Held wird eher ins mystische Geschehen gezogen. Der Film erzählt von einer Initiation. Faust (Jan Kraus), ein Mann in den Vierzigern, eilt durchs heutige Prag. Während die meisten Passanten die Flugblätter, die zwei Männer vor einem U-Bahn-Ausgang verteilen, genervt wegschmeißen, steckt er sich widerwillig eines ein. Das ist schon der erste Schritt in eine andere Wirklichkeit, die die Dinge bedeutungsschwer verwandelt. Im finstren Treppenhaus zieht eine dicke Frau eine Puppe scheppernd hinter sich her, deren Kopf fast zerquetscht wird von der Tür, die sich schließt; ein schwarzer Hahn kommt vorbei, ein leeres Ei findet sich im Brotlaib. Auf dem Flugblatt findet sich die Karte eines anderen Prags. Ein Ort ist eingekreist, da soll etwas geschehen. Ein Keller, irgendwo im hintersten Hinterhof. Dort findet Faust diverse Faust-Utensilien: einen Zaubermantel, einen alten Hut, Schminke und eine uralte Ausgabe von Goethes „Faust“. Fortan geht es zu wie in Träumen, die sich in Träume verirrt haben.

Auf einer Ebene modelliert der Held ein recht instabiles Leben aus Lehm, auf einer anderen soll er auf einer Bühne den „Faust“ geben, dann wieder steigt er in einer verfallenen Kirche tausend Treppenstufen, die unter ihm wegbrechen, gen Himmel, um dort mit Mephistopheles zu ringen, um wieder auf einer anderen Ebene erleichtert zurückzukehren in die Prager Wachwelt. Doch auch hier deuten tausend irritierende Zeichen darauf hin, daß es sich in Wirklichkeit ganz anders verhält.

Die Wachwelt ist von Träumen unterwandert. In Prag verzehren von Hunden bedrängte Bettler die Beine von Fußgängern, die unachtsam waren im Straßenverkehr. Im Theater findet sich der Schauspieler wider Willen als Marionette, oder er stürzt lüstern einer schönen Frau hinterher, die sich beim GV als Holzfigur erweist. Oder er wird zum Teil einer Serie: Kasperlefiguren äffen sein Faustspiel nach.

Tod und Initiation gehen in Serie

Am Ende flieht er vor den Gestalten der Hölle und wird – vielleicht nur – von einem höllenroten Golf, an dessen Steuer niemand sitzt, umgenietet. Ein Bein lugt unter dem Auto hervor; das greift sich ein Penner. Tod und Initiation gehen in Serie: ein anderer neugieriger Passant kommt, mit dem Flugblatt in der Hand. Vielwissend schauen die Flugblattverteiler. Ob es sich bei ihnen um Mitglieder der Prager surrealistischen Gruppe handelt, kann man heute von Jan Švankmajer und seiner Frau Eva Švankmajerova, die den Film künstlerisch leitete, im Tschechischen Zentrum erfahren. Beide haben ihr Kommen zugesichert. Detlef Kuhlbrodt

Heute 20 Uhr (mit den Švankmajers), 12./13. 11., 20 und 22 Uhr, Tschechisches Zentrum, Leipziger Straße 60, Mitte