■ Nicht beantwortete Fragen
: Jürgen Fuchs

Am ersten November dieses Jahres sagte Dr. Gregor Gysi in der ORB-Fernsehsendung „Schlagabtausch“ dem Moderator Lutz Bertram, daß eine „Kampagne“ gegen ihn stattfinde, an der sich Leute beteiligten, „mit denen er zu DDR- Zeiten nie etwas zu tun hatte. Und Jürgen Fuchs, dem bin ich überhaupt noch nie in meinem Leben begegnet, bis heute nicht.“

Und darauf schwören Sie bestimmt auch alle Eide Ihres Lebens, nicht wahr, Gregor Gysi? An solchen Details zeigt sich das schlechte Gedächtnis des PDS-Politikers.

Kleiner Hinweis an den Zeitgenossen: Der Dezember 89 war doch recht ereignisreich und nicht ohne Bedeutung für SED-Verantwortliche. Am 1. Dezember zum Beispiel sang nach 25 Verbotsjahren Wolf Biermann zum ersten Mal wieder in der DDR, in Leipzig. Ich habe auf seinen Wunsch zu Beginn des Konzerts einige Sätze gesagt. Das Fernsehen aus Ost und West übertrug auf sämtlichen Kanälen.

Und am 3. Dezember 89, im „Haus der Jungen Talente“ in Ost-Berlin, da wurde stundenlang diskutiert, Kulturminister Keller und Gysi vertraten die Einheitspartei. Eingeladen waren unter anderem die ausgebürgerten Künstler Wegner, Krawczyk, Hagen, Biermann und Fuchs. Zum ersten Mal ein Gespräch dieser Art, öffentlich und kontrovers.

Ich habe davon gesprochen, daß Erinnerung so wichtig ist, habe auch an Mitscherlich erinnert, an die „Unfähigkeit zu trauern“, die er den Deutschen nach 1945 vorwarf. Habe die Namen von 77 ausgebürgerten Autoren vorgelesen, das hat ein wenig gedauert. Dann eine Stille.

Erinnern Sie sich, Herr Gysi? Danach eine Kontroverse zwischen uns, ob man die Diktatur der Nationalsozialisten und der stalinistischen Kommunisten vergleichen könne. Ich war der Meinung, vergleichen ja, wenn auch nicht gleichsetzen. Sie haben dann von den „enttäuschten einfachen Parteimitgliedern“ gesprochen, „die an alles geglaubt haben“. Ihr Plädoyer war: „Wir brauchen eine vollständige Ehrlichkeit. Sonst ... geht es mit diesem Land nicht vorwärts, wenn wir da irgend etwas unter den Teppich kehren. Und mag es noch so bitter sein. Wir brauchen vollständige Offenheit und vollständige Öffentlichkeit, ansonsten können wir ja miteinander schon gar nicht mehr reden. Immer wenn einer versucht, unehrlich zu werden, geht das Gespräch schon daneben. Und wenn wir das nicht führen können, dann brauchen wir gar keinen Anfang zu machen. Und ich glaube, wir sollten es tun: mit voller Offenheit! Anders gehn wir unter.“

Haben Sie gesagt an diesem Tag im Jahre 89. Das ist heute vergessen. Auch die Personen der Runde haben Sie vergessen. Der Moderator hieß übrigens Lutz Bertram, DT64. Auch er konnte sich in der „Schlagabtausch“-Sendung offenbar nicht mehr erinnern. War das wirklich ein so unwichtiger Tag, ein so unwichtiges Jahr?

Langsam wird mir klar, warum es so elend schleppend geht, die anderen Fakten ins Gedächtnis zu rufen. Vergeßlichkeit 1989, als ein Staat zusammenbrach und einige Ausgebürgerte zurückkamen. Was ist erst, wenn es um die Jahre 76, 79, 82 geht? Die liegen ja noch weiter zurück! Und da waren der Staat und seine Organe noch in der Blüte ihrer Macht: die Repräsentanten winkend auf den Tribünen, die Helfer leise und konspirativ in den Wohnungen ... „Vollständige Ehrlichkeit und Offenheit“, wie recht Gysi hatte! Offenbar hatte er nicht an sich selbst gedacht. Dann wird man eben „vergeßlich“. Aber andere nicht. Müssen die dann von amnesiegeplagten Politniks juristisch zum Schweigen gebracht werden? Möglich. Es wird sich ja zeigen, ob das gelingt im deutschen demokratischen Staat Bundesrepublik Deutschland. Auf der anderen Seite gibt es Vergeßliche, denen plötzlich die Fakten wieder einfallen.

Lüge und Konspiration lassen sich lüften. In ein paar Minuten ist viel gesagt. Das erspart dann ellenlange Talk-Shows, Pressekonferenzen und Gerichtsverfahren.