■ Bei der Parlamentseröffnung im Reichstag versagten Regierung und Opposition gleichermaßen
: Verletzung republikanischer Ethik

Von „politischer Kultur“ redet es sich leicht. Von „unserer Demokratie“ ist die politische Rhetorik voll, besonders bei den entsprechenden hohen Anlässen: Staatsfeiertage, Neujahrsansprachen, Parlamentseröffnungen. Frau Süssmuth z.B. findet da immer die richtigen Worte. Was im Deutschen Bundestag soeben geschah, das war nicht „beschämend“ oder „skandalös“, oder ganz verständliches Parteikalkül, sondern eine sehr ernstzunehmende, alles andere als nebensächliche Verletzung republikanischer Ethik. Einer Ethik, ohne die die Institutionen zerfallen und sich in beliebig instrumentalisierbare Techniken des Machtspiels auflösen.

Die Rede ist erstens vom Verhalten der CDU/ CSU-Fraktion zur Rede von Alterspräsident Stefan Heym. Daß es im Vorfeld ernsthafte Überlegungen gab, wie man diese Rede des PDS-Abgeordneten verhindern könnte, war schon ein böses Vorzeichen. Lassen wir es dahingestellt, daß ein Mann wie Heym gestern noch als Repräsentant der Hoffnung für eine Überwindung der SED-Diktatur galt, für eine „DDR mit menschlichem Antlitz“, den als frei von Ost nach West reisenden Botschafter der DDR-Dissidenz zu begrüßen sich alle ohne Ausnahme eingefunden hätten.

Lassen wir es auch dahingestellt, daß dieser Mann mit echter demokratischer Legitimation für viele Menschen aus den sog. neuen Bundesländern sprach, um deren Zukunft es in dieser zweiten Bundesrepublik Deutschland doch wohl ganz entscheidend geht. Und lassen wir auch, obwohl es schwerfällt, dahingestellt, daß dieses dann eine kluge, versöhnende, eine weise Rede wurde, ohne falsche Töne und ohne jeden Anflug von Parteilichkeit – selbst wenn das alles ganz anders gewesen wäre: Daß die Kanzlerpartei ihm den schlichten Anstand auch nur des höflichen Schlußbeifalls verweigerte (offensichtlich vorher abgesprochen), das verwundet nichts weniger als das Wesen republikanischer Verfassung und politischer Ethik des Rechtsstaates. Die ungeschriebenen Regeln sind das Fundament, auf dem das politische Recht ruht. Hier wurde ein Stück Fundament verletzt. Ich weiß nicht, ob die immer so nobel tönende Frau Süssmuth sich ebenso verhielt wie ihre Parteifreunde und -freundinnen. Wenn ja, hätte sie damit die moralische Befähigung zu ihrem Amt verspielt; wenn nein, so fehlt das offene Wort über das unwürdige Verhalten der schweigenden Mehrheit, vom Bundeskanzler abwärts.

Zweitens ist die Rede von der Opposition, die sich spiegelbildlich, nur in anderer Sache, genauso die politischen Sitten verachtend, verhalten hat in der Verweigerung des Vizepräsidentenpostens für die Vertreterin der kleineren Partei. Daß ihre Gegner die Kandidatur der Bündnisgrünen aus durchsichtigen Motiven unterstützten, tut wiederum nichts zur Sache: Der schlichte Respekt vor den Institutionen im allgemeinen und dem Parlament als der vornehmsten unter ihnen hatte/hätte es geboten, ganz selbstverständlich dieses Angebot von Anfang an zu machen und diese Frage nicht zum taktischen Parteienschacher verkommen zu lassen.

Die Schadenfreude, die man angesichts der Abstimmungsniederlage der SPD empfinden könnte, wäre jedoch eine ganz fatale Reaktion. Bitterkeit über den überparteilichen Zynismus im Umgang mit institutioneller Ethik, über die Verletzung der ungeschriebenen Verhaltensregeln im Verfassungsstaat (Wurde nicht kürzlich noch „Verfassungspatriotismus“ als Tugend beschworen?), die bleibt in der Erinnerung an diese Parlamentseröffnung.

Das ist nicht schnell wiedergutzumachen oder zu vergessen. Der scheinbar unbedeutende Vorgang auf der politischen Bühne, bewußt inszeniert von der politischen Klasse dieses Landes, verweist auf Krankheitskeime, die eines Tages sehr gefährlich werden können. Ekkehart Krippendorf

Professor für Politische Wissenschaft an der FU Berlin