■ Nebensachen aus Bukarest: Der größte Selbstbedienungsladen der Welt
Herr Vlasceanu sichert und überwacht die Fütterung des Monstrums. Gewissermaßen. Auf sechseinhalb Fußballfeldern macht sich das Monstrum breit, und wenn die Wolken tief hängen, verschwindet seine Spitze in ihnen. Es ist entsprechend gefräßig – gefräßig wie eine Großstadt. Herr Vlasceanu ist davon zutiefst beeindruckt, um so mehr, als er doch im Rachen des Monstrums arbeitet. Sozusagen. Er ist Direktor der Investitionsabteilung im größten Haus Europas und (nach dem Pentagon) zweitgrößten Haus der Welt: im Palast des hingerichteten Diktators Nicolae Ceaușescu.
„Dies“, sagt er stolz, „ist kein Gebäude, sondern eine ganze Stadt in einem Gebäude.“ Für die „Stadt in einem Gebäude“ ließ der rumänische Diktator einst die halbe Bukarester Innenstadt dem Erdboden gleichmachen. Denn er benötigte den Platz für seinen viereinhalb Kilometer langen „Boulevard des Sieges des Sozialismus“. An dessen einem Ende errichteten 17.000 Bauarbeiter die „Stadt in einem Gebäude“, genannt „Haus des Volkes“. Kleine Elektromobile sollten den Diktator auf 300.000 Quadratmetern und zwischen ein paar tausend Zimmern hin und her kutschieren.
Herr Vlasceanu ergötzt sich an solchem Größenwahn. Zum Beispiel, erzählt er, verbrauche die „Stadt in einem Gebäude“ soviel Energie wie die südrumänische Großstadt Ploești mit ihren 220.000 Einwohnern. Umgerechnet hunderttausend Mark betrug die Stromrechnung für die Monate Juni, Juli und August. Statt des toten Diktators kutschiert jetzt täglich eine Armada von Reinigungskräften auf Putzmobilen durch die riesigen Gänge, Hallen und Säle. Und anläßlich einer internationalen Konferenz im Frühjahr ließ die Direktion schnell 16.000 Bäume pflanzen.
Wenn auch Bukarest kein Geld hat, um seine Straßenkinder in Heimen unterzubringen, die Angestellten im „Haus des Volkes“, pardon, im „Palast des Parlamentes“ müssen nicht befürchten, daß in Zukunft keine Unsummen mehr verschwendet werden. Denn die Abgeordneten, die ungeduldig darauf warten, endlich in Ceaușescus Palast einziehen zu können, lassen sich nicht lumpen.
Im ihrem kürzlich vorgelegten Haushaltsentwurf sind für das nächste Jahr 62 Millionen Mark Investitionen in die „Stadt in einem Gebäude“ vorgesehen. Ihre neuen Büros werden nicht nur mit Farbfernsehern und Kühlschränken ausgestattet. Für die Anschaffung eines Staubsaugers pro Abgeordneten sind 4.000 Mark veranschlagt, also mehr als sechsundzwanzig rumänische Monatsdurchschnittslöhne. Mehr als das Anderthalbfache desselben soll, wie im Parlamentsbudget vorgesehen, ein Aschenbecher kosten.
Wer dahinter ausschließlich großzügige Selbstbedienung der direkten Art vermutet, hat von rumänischer Politik nichts begriffen. Tatsächlich wird jetzt nur neu angeschafft, was vorher verschwand – nämlich in der Zeit von Dezember 1989 bis April 1991, als am „Haus des Volkes“ nicht gearbeitet wurde. Mitarbeiter der Direktion verscherbelten Mobiliar, Teppich, Stoffe, Baumaterialien und komplett eingerichtete Büros. Empfänger: die Armee, Ministerien, Staatsunternehmen. Sogar die Verwaltung in Cotroceni, dem Palast des Staatspräsidenten Ion Iliescu, kaufte Einrichtungen zu Spottpreisen.
Kürzlich sollte der Prozeß gegen einige verhaftete Geschäftemacher beginnen. Konnte er aber nicht. Denn der Geschädigte ist nicht zu ermitteln. Das Präsidium der Abgeordnetenkammer ließ in einem Schreiben wissen, daß es lediglich Verwalter, nicht aber Eigentümer von Ceaușescus Palast ist. Bukarest ist mit diesem diskreten Hinweis wieder um eine merkwürdige Attraktion reicher. Es hat den größten kostenlosen Selbstbedienungsladen der Welt. Keno Verseck
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