■ Mit Alcatel-SEL auf du und du
: Gefräßige Mutter

Berlin (taz) – Vielleicht müßten die Beschäftigten nicht um ihren Arbeitsplatz bangen, wenn ihr damaliger Chef Helmut Lohr schon 1986 gefeuert worden wäre. Aber seinem Vorgesetzten, dem ITT-Boß Rand V. Araskog, schien es günstiger, Lohrs Griff in die Firmenkasse und seine Bereicherung auf Kosten des Staates nicht an die große Glocke zu hängen. Denn Araskog wollte just zu diesem Zeitpunkt die florierende Tochterfirma SEL in Stuttgart an die französische Tochter Alcatel verhökern. Ein Skandal, so fürchtete er, könnte das Geschäft vereiteln.

Der Deal kam ohne Störung durch Staatsanwälte zustande. SEL wurde zur größten Tochter des in 110 Ländern operierenden Telekommunikationskonzerns Alcatel. Damit begann in Deutschland ein massiver Personalabbau. Während 1987 noch 32.000 Leute auf der SEL- Lohnliste standen, waren es Ende 1993 nur noch 21.300. Und wenn die Pläne der Geschäftsführung umgesetzt werden, sind Ende nächsten Jahres noch 16.000 Beschäftigte übrig. Die Massenentlassungen, Firmenverkäufe und Werkschließungen haben Methode: Alcatel stößt alles ab, was nichts mit Telekommunikation zu tun hat. SEL verlor nicht nur sein Standbein Unterhaltungselektronik, sondern auch immer mehr an Eigengewicht. Inzwischen geht in Stuttgart die Angst um, die französische Mutter könne die deutsche Tochter dermaßen auf Diät setzen, daß sie keine eigenen Produkte mehr entwickeln kann. Wir werden „mehr und mehr zu reinen Erfüllungsgehilfen der französischen Konzernleitung“, schreibt die IG-Metall auf einem Flugblatt.

Dabei sah es kurz nach der Wende relativ gut für die Stuttgarter aus. Als einer der ersten Betriebe übernahm SEL mehrere in der Elektrotechnik engagierte VEB – der Markt für Telefonkunden in Ostdeutschland war riesig. Sehr zugute kam der SEL ihr traditioneller Status als Hoflieferant der deutschen Telekom. Die aber hat sich aufgrund ihrer privatwirtschaftlichen Struktur umorientiert und schließt lieber Verträge mit anderen Lieferanten auf dem Weltmarkt. Vor allem als SEL wegen der Übernahme von Alcatel-Technik Umstellungsschwierigkeiten hatte und hohe Konventionalstrafen zahlen mußte, reagierte die Telekom mit Vertragsentzug.

Jetzt soll der Standort Mannheim ganz aufgelöst werden und die Produktionen nach Frankreich, Italien und Spanien verlagert werden. Die bisher noch selbständigen SEL-Betriebe in Ostdeutschland werden nach den französischen Plänen der Führung in Stuttgart unterstellt.

Die IG-Metall mobilisiert kräftig. Sie fordert nicht nur eine Mitbestimmung des Aufsichtsrats bei Werkschließungen und anderen großen Entscheidungen. Vor allem weist sie darauf hin, daß SEL in den letzten beiden Jahren eine Milliarde Mark an den Mutterkonzern abdrücken mußte – mehr als doppelt so viel als die jetzt aufgelaufenen 400 Millionen Mark Schulden. Annette Jensen