„Ich sage: Stern. Und ein Dromedar“

■ „Shanghai – erster Klasse“ von Anna Rheinsberg, wurde im Modernen Theater uraufgeführt: eine Gastproduktion der „Berliner Schauspielerinnen“

Dramaturgen sind erbarmungslos. Briefe, Gedichte, Romane, Comics – was ihnen in die Hände fällt, wird zum Theaterstück. Im Dramatisierungsrausch paßt jeder Text fürs Theater, abgesehen vielleicht von der Reichsversicherungsordnung oder Arnos Schmidts Spätwerk. Anna Rheinsbergs „Shanghai – erster Klasse“ ist auf den ersten Blick für die Bühne geeignet: ein Monolog, man muß ihn nur sprechen. Die Regisseurin Ulrike Hofmann ist in die Falle getappt und hat den Text im Modernen Theater inszeniert.

Anderthalb Stunden lyrische Prosa der hermetischen Sorte. Unruhig rutschen die Premierengäste auf ihren Sitzen herum und kämpfen mit ihren in der Stille gut hörbaren Verdauungsgeräuschen.

Der Bewußtseinsstrom einer Fünfzehnjährigen gibt Rätsel auf: „Das Licht heute, die ganze Welt darin und der Fluß ... Ich sage: Stern. Und ein Dromedar ... sag doch ein Wort, Hund. Leichtsinn. Dein Gesicht, gelber Hund, ist weiß und ein Sommer. Ein Land, das man nicht kennt.“ Dem lebensgroßen Stoffterrier, den sie fest umklammert hält, erzählt das Mädchen von ihrer Mutter, von Jeff und Tante Hélène. Das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen diesen Personen enthüllt sich sehr langsam. Und erst am Ende des Monologs wird klar, daß das Mädchen ein grauenhaftes Verbrechen begangen hat.

„Es war berührend, einen Menschen auf der Bühne zu sehen, den es nur auf dem Papier gegeben hat“, meinte die Autorin nach der Uraufführung. Sonst gehe ich nie ins Theater. Ich interessiere mich auch gar nicht fürs Theater.“ Anna Rheinsberg hat eine Reihe von Lyrikbänden und Erzählungen veröffentlicht. Auch „Shanghai – erster Klasse“ habe sie nicht für die Bühne geschrieben, erklärt sie: „Die Aufführung war ein Experiment.“

Das Experiment von Ulrike Hofmann und ihrer Darstellerin Silvia Freund war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Trotzdem kämpfen die beiden Frauen bravourös gegen den unspielbaren Text an. Es ist sehenswert, wie Silvia Freund, die mit Ariane Mnouchkine und Achim Freyer zusammengearbeitet hat, die verwirrte 15jährige spielt. Kritisch betastet sie ihren für sie noch neuen Körper, kratzt sich dann wieder unbekümmert wie ein Kind, beißt sich nervös auf die Fingerknöchel. Immer wieder bricht sie wie selbstvergessen in Gesang aus, eine mörderische Ophelia, während das eingebildete Wasser um sie herum immer höher steigt.

Die kleine Bühne ist fast leer. Auf einer angelehnten Leiter rechts sitzt das Mädchen mit seinem Stoffhund. Auf der Rückwand deuten sich ein Fenster und ein Baum an, auf dem kleinen Zaun davor hockt ein ausgestopfter Rabe. Den Kopf hat er nach links gedreht, in jene Ecke, wo man sich die tote Mutter vorzustellen hat.

„Mich interessiert Kindheit als Prozeß, als Initiation und Gewalterfahrung“, sagt Anna Rheinsberg. „Erwachsene haben mich nie interessiert, das Erwachsene, Fertige, bewegt sich nicht mehr.“ Junge Mädchen spielen auch in ihrem bekanntesten Werk, dem Erzählungsband „Alles Trutschen“, die Hauptrollen. Aber dieses Mädchen hier ist von anderem Kaliber als die harmlosen Kleinstädterinnen. In Zeitlupe wirft sich die Schauspielerin in Kampfsportpose, als sie dem erschöpften Publikum von der Katastrophe zu erzählen beginnt. Das Mädchen hat die Mutter erschlagen, deren Liebhaberin Tante Hélène hat Jeff erschossen, der der Geliebte des Mädchens wie der Mutter war. Raben und Fliegen kreisen ums Haus. Und das Mädchen träumt von einer Fahrt nach Shanghai, erster Klasse... Miriam Hoffmeyer

Weitere Vorstellungen 18.–20.11., 26.–27.11., 2.–5.12., 9.–12.12. und 16.–18.12., 20.30 Uhr, im Modernen Theater, Merseburger Straße 3, Schöneberg. Am 25.11. um 20.30 Uhr liest Anna Rheinsberg dort aus ihren Texten.