Schwierigkeiten mit der Wahrheit

Die Spannung in den Flüchtlingslagern um Goma steigt. Menschen werden ermordet, rückkehrwillige Ruander werden eingeschüchtert. Die Hilfsorganisationen wissen nicht, wem sie glauben sollen  ■ Aus Goma Bettina Gaus

In der zairischen Stadt Goma erinnert kaum etwas an die Bilder apokalyptischen Grauens von der Massenflucht rund einer Million Männer, Frauen und Kinder, die im Juli aus Ruanda hierhergekommen waren. Nur die vielen Baumstümpfe auf Plätzen und an Straßenrändern zeugen noch von den Tagen, in denen jeder Zweig gebraucht wurde, um den Notleidenden als Feuerholz wenigstens ein bißchen Wärme zu liefern.

Heute sind die Flüchtlinge in großen Lagern der Umgebung untergebracht. Plastikplanen über den Laubhütten bieten Schutz vor Regen. Hilfsorganisationen verteilen regelmäßig Maismehl, Bohnen und Öl. Insgesamt liefert das UNO-Welternährungsprogramm WFP täglich 370 Tonnen Lebensmittel für die Region. Lastwagen bringen frisches Trinkwasser und Brennholz. Im Lager Kibumba hat die Organisation Goal für etwa tausend Kinder, die ihre Eltern verloren haben, sogar einen Spielplatz gebaut – mit Rutschbahn, Schaukel und Wippe. Wie in allen Flüchtlingslagern der Welt haben sich auch hier kleine Märkte gebildet, auf denen Fleisch, Gemüse, Kleider und Getränke verkauft werden. Schneider an alten mechanischen Nähmaschinen bieten ihre Dienste an. Einige Hütten werden als Bars und Restaurants genutzt. Inmitten der Ausnahmesituation des Exils entsteht Alltag.

Die humanitäre Katastrophe ist unter Kontrolle gebracht worden. In den Lagern liegt dank der regelmäßigen Versorgung die Sterberate niedriger, gibt es weniger Unterernährte als in ländlichen Gebieten Ruandas zu Friedenszeiten.

Die Probleme, mit denen ausländische Helfer und Flüchtlinge hier zu kämpfen haben, schwelen unter der Oberfläche. Sie lassen sich nicht auf den ersten Blick erkennen. In Kibumba werden Versammlungen abgehalten: kleinere mit etwa zwanzig Teilnehmern, größere mit ein paar hundert. Junge Männer sprechen dabei zu ihren Zuhörern, gestikulieren, scheinen eindringlich etwas zu erklären. „Da kocht wieder was“, meint der Mitarbeiter einer ausländischen Hilfsorganisation. Aber was?

Nicht nur die Zivilbevölkerung ist vor dem Krieg in Ruanda geflohen. Über die Grenze kamen auch Regierungsmitglieder, die Soldaten der geschlagenen Armee und die Parteimilizen, denen der größte Teil der Massaker an Regimegegnern und Angehörigen der Tutsi-Minderheit zur Last gelegt wird. Ihre Zahl wird auf fast 40.000 geschätzt.

Die neue Regierung in Ruandas Hauptstadt Kigali wird von der ehemaligen Rebellenbewegung RPF (Patriotische Front Ruandas) dominiert, die sich überwiegend aus Tutsi rekrutiert. Sie fordert Strafverfahren gegen die Verantwortlichen des Blutbads, das ihren Angaben zufolge eine Million Opfer gefordert hat. Eine Rückkehr der Flüchtlinge in großer Zahl würde die Mörder isolieren. „Wer von den Flüchtlingen nach Ruanda zurück will, wird eingeschüchtert“, sagt Lyndall Sachs vom UNO- Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Goma. „Jede Woche werden durchschnittlich 15 bis 20 Leute in den Lagern ermordet. Wir, die ausländischen Organisationen, werden manipuliert. Die Kontrolle über die Camps ist uns aus den Händen genommen worden.“

Vertreter anderer Organisationen beurteilen die Lage ähnlich. Einige sind selbst bedroht worden. Viele haben den Eindruck, daß die humanitäre Hilfe die gestürzten Machthaber bei der Planung einer neuen Offensive unterstützt. Ehemals hochrangige ruandische Militärs erörtern offen die Möglichkeit eines Angriffs über die Grenze hinweg. Immer wieder einmal explodiert in einem der Lager eine Granate. Eine große Zahl von Waffen soll dort versteckt sein – und weder zairische Behörden noch ausländische Hilfswerke wagen Razzien. „Wir haben das Gefühl, daß wir Leuten helfen, die sich aus unserer Sicht darauf vorbereiten, nach Ruanda zurückzugehen und den Völkermord fortzusetzen“, meint Jean Lapierre von Care Kanada. „Diese Leute sind heute stärker als noch vor ein paar Monaten. Sie organisieren sich.“

Care Kanada gehört zu den 15 Hilfswerken, die mit dem Abzug ihrer Mitarbeiter gedroht haben, sollte sich die Lage nicht ändern. Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat inzwischen die Einstellung ihrer Arbeit angekündigt. Das UNHCR fordert die Stationierung internationaler Truppen in den Lagern. Falls der Weltsicherheitsrat dem Begehren entspricht, entstünde damit eine noch nie dagewesene Situation: Helfer werden vor denen geschützt, deren Not zu lindern sie gekommen sind.

Aber Täter und Opfer lassen sich in dem ruandischen Konflikt nicht immer scharf voneinander trennen. Berichte auch unabhängiger Beobachter mehren sich, denen zufolge die RPF ebenfalls Menschenrechtsverletzungen begeht und heimgekehrte Hutu- Flüchtlinge terrorisiert.

Michael Kenny, der für die Organisation „Concern“ arbeitet, hat in Ruanda Heimkehrer besucht: „Sie haben mir erzählt, daß sie sich bedroht fühlen und Flüchtlingen von der Rückkehr abraten.“ Er bestreitet nicht, daß es in den Lagern Probleme gibt, aber er erklärt auch: „Ich denke, wir können nicht immer nur die Flüchtlinge für alles verantwortlich machen. Wir sind hier die Profis, wir müssen die Verantwortung übernehmen. Wenn das System, das es hier gibt, nicht funktioniert, dann müssen wir für ein besseres System sorgen. Natürlich orientieren sich Leute an den alten Strukturen, solange wir ihnen keine neuen anbieten.“

Im Chaos des ersten Massenansturms, wo es weder Wasser noch Nahrung oder Unterkünfte gab und die Cholera wütete, war keinerlei Ordnung oder System zu erkennen. Viele Flüchtlinge wandten sich an diejenigen, die ihnen als Autoritäten vertraut waren: ehemalige Präfekten, Ortsvorsteher oder ganz einfach Schullehrer. „Unter denen gibt es eine ganze Reihe, die sehr hilfreich sind. Es gibt Leute, die behaupten, das seien alles Milizen. Aber so einfach ist es nicht“, meint Michael Kenny.

Die alten Strukturen bestimmen die Organisation der Lager: Die Flüchtlinge werden entsprechend der Gemeinden, Sektoren und Präfekturen eingeteilt, aus denen sie stammen, und wählen dann ihre Sprecher. Im Lager Katale, etwa 25 Kilometer von Goma, findet jeden Mittwoch eine Lagerkonferenz statt, an der neben Flüchtlingsvertretern auch militärische und zivile zairische Autoritäten und ausländische Organisationen teilnehmen.

Hier vor Ort, wo es etwa 200.000 Hilfesuchende zu versorgen gilt, sind ausländische Helfer und Flüchtlingssprecher aufeinander angewiesen. Die Töne sind leiser als in Goma: „Ich versuche die Leute zu verstehen und ihnen zuzuhören“, sagt Eraun Guven vom UNHCR. Sie hält wenig von der Idee, UNO-Truppen in den Lagern zu stationieren: „Wir brauchen nicht noch mehr bewaffnete Leute, wir brauchen mehr Leute, die die Probleme verstehen.“

Die Suche nach der Wahrheit gestaltet sich schwierig in den Lagern um Goma. Der Lehrer Jean Marie Rutagengwa ist in Katale zum Vertreter der Flüchtlinge aus der Präfektur Kibungo gewählt worden. Er bestreitet rundheraus alle Vorwürfe, die von Mitarbeitern ausländischer Organisationen erhoben werden: „Die Leute, die diese Anschuldigungen erheben, sind nicht menschlich. Sie verfolgen damit böse Absichten.“ Das gelte auch für Journalisten, die entsprechende Berichte schrieben und in denen Rutagengwa „Agenten der RPF“ sieht.

Von Agenten und Spionen der RPF, die sich angeblich auch in die Lager eingeschlichen haben, ist viel die Rede. François Karera, ehemaliger Präfekt der ländlichen Umgebung Kigalis, ist Mitglied eines Flüchtlingskomitees, das sich mit sozialen Fragen beschäftigt. „Auch heute gibt es in Katale Verdächtige, die wir kennen.“ Diese würden jedoch nicht etwa umgebracht, sondern den zairischen Behörden übergeben. „Einer der Festgenommenen hat uns erzählt, er sei mit drei anderen gekommen. Sie hatten Granaten und Kalaschnikows, um das Camp zu destabilisieren“, wirft Jean Marie Rutagengwa ein. Ein verräterischer Hinweis, so er denn stimmt: Ohne Todesangst würde ein Spion derlei wohl kaum preisgeben. Läßt sich eine Infiltration der RPF in den Reihen derer, von denen sie einen Angriff zu befürchten hat, andererseits ganz ausschließen?

Rutagengwa bestreitet auch kategorisch die Einschüchterung von Flüchtlingen, die nach Hause zurückkehren wollen: „Wenn jemand weg will, wer könnte ihn stoppen? Wir lachen über diese Anschuldigungen. Was sollten wir denn machen?“ Diese Aussage steht im krassen Widerspruch zu dem, was fast alle ausländischen Organisationen berichten. Aber die Empörung des Flüchtlingssprechers über die Vorwürfe wirkt ehrlich. Kränkungen sitzen tief: „Journalisten, die herkommen, behandeln uns fast immer wie Tiere. Sie scheinen zu glauben, daß wir alle pausenlos Massaker begangen haben. Das stimmt einfach nicht.“

Auch Karera, der im Nachrichtenmagazin Time als einer der Verantwortlichen für das Blutbad in Ruanda bezeichnet wird, will persönlich keinerlei Schuld auf sich geladen haben. Das Lachen, mit dem er sonst fast alle Sätze begleitet, verstummt, wenn er beschwörend versichert, er sei an dem Massenmord nicht beteiligt gewesen. Kann das stimmen? Und wenn es stimmt – hat er eine Chance, seine Unschuld zu beweisen? Er behauptet auch, der berüchtigte Radiosender „Milles Collines“ habe nie zum Töten aufgerufen, sondern stets zur Ruhe gemahnt. Das allerdings läßt sich durch Tonbandaufnahmen widerlegen.

Die gemeinsame Arbeit unter schwierigen Bedingungen auf engem Raum sorgt für ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen Helfern und Flüchtlingsvertretern. Stärken nicht zuweilen gerade diejenigen die Position der ehemals Herrschenden in Ruanda, die sie am schärfsten ablehnen? Macht wird nicht nur erobert, sie wird auch verliehen. „Mir kommt das so vor, als ob die Organisationen die Leute hier praktisch wie eine Regierung behandeln“, meint Otto Haring. „Ständig ist die Rede von Präfekten oder Generälen.“

Der Österreicher ist im Auftrag des SOS-Kinderdorfes nach Goma gereist. Er will 48 Tutsi-Kinder, die keine Familien mehr haben, ins Kinderdorf nach Kigali bringen. UNHCR und Internationales Rotes Kreuz aber wagen derzeit keine Repatriierung: „Die halten das im Augenblick für zu riskant. Sie meinen, es könnte auch andere Tutsi- Kinder hier in der Region gefährden“, erklärt Haring. Ohnehin schwebt nach Einschätzung der meisten Ausländer hier über den wenigen Tutsi, die in den Lagern leben, ständig das Damoklesschwert der Ermordung.

Die Beschäftigung mit der Situation um Goma wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Einig sind sich die meisten ausländischen Beobachter darin, daß die Spannung in den Lagern steigt. Kommt es zu einem neuerlichen Ausbruch der Gewalt, dann werden sich alle bestätigt fühlen: diejenigen, die Ruandas alten Machthabern die Schuld geben, ebenso wie diejenigen, die es für die Aufgabe der insgesamt mehr als 80 Organisationen vor Ort halten, die Situation in den Griff zu bekommen. Eine Lösung der Probleme hat keiner parat.