■ Verpaßte Chance für die „Berliner Republik“
: Experimente, bitte!

Es kam, wie es kommen mußte: Nach Ankündigungen im Wahlkampf meldete die FDP mit weniger als halbem Herzen das sogenannte „Ausländerthema“ zu den Koalitionsverhandlungen an. Die CDU tat so, als habe sie gerade nicht hingehört, und ging in Deckung. Die CSU ließ aus München ein kräftiges „Mit uns niemals nicht“ vernehmen. Und damit war das Thema erledigt. Wieder einmal war die FDP eingeknickt. Und wie zum Hohn verkauft sie diese Hängepartie als notwendiges Übel zur Verhinderung des „großen Lauschangriffs“. Anstatt eine Erleichterung zu bringen, ist das jetzt entstandene „Kinderstaatsbürgerschaftsrecht“ nicht nur ein weiterer unnötiger Schritt zur Ausgrenzung und Stigmatisierung von MigrantInnen, es stellt auch die ohnehin schon überforderten und defensiven Verwaltungen vor das Problem, einen erneuten Sonderstatus bewältigen zu müssen.

Wir Bündnisgrünen hatten im Wahlkampf keinen Zweifel daran gelassen, daß wir umfassende Erleichterungen bei der Einbürgerung, die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft und die grundsätzliche Umstellung des altdeutschen „ius sanguinis“ auf das „ius soli“ wollen. Das erst 1991 novellierte Ausländergesetz muß dringend davon befreit werden, MigrantInnen hauptsächlich als Störfaktor und Eindringlinge zu betrachten. Ein vorausschauendes Einwanderungsgesetz muß beschlossen, und das Flüchtlingsrecht für AsylbewerberInnen und (Bürger-)Kriegsflüchtlinge muß geändert werden.

Durch das CSU-Veto in Einwanderungsfragen wird von alledem in der nächsten Legislaturperiode nichts umgesetzt werden. Was aber passiert in der Zwischenzeit? Jugendliche MigrantInnen der zweiten und dritten Generation schaffen es immer weniger, sich mit der Tatsache ihres erzwungenen Andersseins, ihrem künstlich geschaffenen Ausländerstatus abzufinden. Sie sind hier geboren, sie sprechen perfekt Deutsch, fast alle waren in ihrer Biographie schon einmal auf dem Weg in das multikulturelle Deutschland und wurden brutal zurückgepfiffen. Wie werden sie weiterhin auf diese Vollbremsung durch staatliche Stellen wie auf den fehlenden Schutz vor Diskriminierung reagieren?

Über den in meiner Behörde geschalteten „Heißen Draht“ treffen sie ein, die Nachrichten aus Koalitionsdeutschland. Täglich, unspektakulär und doch mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Der Kleingarten, der nicht an einen türkischen Freund weiterverkauft werden kann, weil der Verein grundsätzlich keine Ausländer in seinen Parzellen duldet. Die von einigen Fahrschulen im Lande Bremen erhobene „Kopftuchsteuer“ für ausländische FahrschülerInnen. Wie werden die so Diskriminierten reagieren? Teilweise ebenfalls unspektakulär: sich durchbeißen, es trotzdem schaffen, den Eltern und den Deutschen den Effenberg-Finger zeigen, einen Frisörladen aufmachen, studieren. Migrationserfahrung kann auch stark machen, das übersieht der rein sozialpolitische Zugang zur Migrationsfrage, der die SPD-Politik bisher geprägt hat.

Teilweise aber laufen sie in Scharen in die Moscheen, zu religiösen und nationalistischen Gruppen, und sie gehen in Scharen zu den Gangs, den kleinen informellen und beileibe nicht erfolglosen Survivalgruppen der Städte. Die Logik ist überhaupt nicht von der Hand zu weisen: Wer formal nicht anerkannt wird, muß sich informell über Wasser halten.

Da es viele schon gemerkt haben, sollte es auch den Koalitionären in Bonn nicht verborgen geblieben sein. Es geht längst nicht mehr um den Streit zwischen bösen Deutschen und guten Ausländern oder bösen Ausländerfeinden und guten Ausländerfreunden. Die multikulturelle Gesellschaft ist längst Realität, Zuzug findet statt und wird stattfinden. Es geht auch nicht mehr nur um die sozialpolitische Sahne auf einem ziemlich trockenen Gastarbeiterleben. Neben der Anerkennung der Lebensleistung der älteren Migrantengeneration geht es um die Produktion von Kitt für die Gesellschaft der neuen Berliner Republik. Statt Kitt produziert die Koalition mit ihrer Weigerung einer kohärenten Migrationspolitik jedoch Zentrifugen. Statt der versprochenen Zukunft für Deutschland produziert sie Fragmentierung in Deutschland. Statt Aufschwung Ost produziert sie Ausländer West, garantiert „made in Germany“.

Alle Verantwortung lastet jetzt auf den Ländern und Kommunen. Am Bonner Ausländergesetz, an den Asylbeschlüssen ist nur sehr schwer vorbeizukommen. Bislang waren die Länder auch gar nicht so scharf auf die Verantwortung. Der Verweis auf den bösen Herrn Kanther und gegebenenfalls auf die Kollegen aus Bayern, die notorisch ihr Einvernehmen für Bleiberechtsregelungen, Abschiebestopps und integrative Maßnahmen verweigerten, hatte auch etwas Entlastendes. Jetzt stehen vier Jahre vor uns, die Koalition hat getagt, les jeux sont faits. Länder und Kommunen kommen also gar nicht darum herum, in ihrem Zuständigkeitsbereich Alleingänge zu wagen. Bitte Experimente! Durch Arbeit als Mittler im Spannungsfeld der multiethnischen, multipolitischen und multireligiösen Unübersichtlichkeit müssen sie zuallererst Anerkennung schaffen. Anerkennung besteht nicht nur aus einem Paß. Sie besteht vor allem darin, als Individuum, als Gruppe ernst genommen und akzeptiert zu werden.

Für Flüchtlinge müssen die Länder nun endlich um die Kompetenz bei Duldungs- und Abschiebefragen kämpfen. Ein Rechtsgutachten von Prof. Bryde aus Gießen liegt vor. Dort werden schon jetzt Wege aufgezeigt, eigenverantwortlich humanitäre Aspekte zu berücksichtigen, ohne mit dem Finger nach Bonn oder München zu zeigen. Innenminister aller Länder, vortreten! Wer traut sich mit dem Gutachten im Rücken zuerst, einen Abschiebestopp über die üblichen sechs Monate hinaus zu verlängern? Das müssen nach dem Ergebnis der Bundestagswahl vor allem die rot-grünen Regierungen in Bremen, Hessen und Sachsen- Anhalt sein. In der Bremer Ampelkoalition, wo sie den Innensenator stellt, kann die FDP ihr in Bonn gebrochenes Versprechen einlösen. Die zum Handeln bereiten Länder müssen sich jetzt schleunigst auf ein Vorgehen verständigen. Auf Veränderungen in Bonn warten heißt den Leuten auch wieder nur so ein laues Hoffnüngchen machen, anstatt zu handeln.

Und an die Ausländerbeauftragte des Bundes: Ihre Vorgängerin, verehrte Frau Schmalz-Jacobsen, die wie Sie sehr engagierte und bei den MigrantInnen geschätzte Frau Funke, hat es schließlich nicht mehr ausgehalten, vorgeführt zu werden. Welche Konsequenz ziehen Sie? Helga Trüpel

Senatorin für Kultur und Ausländerintegra-

tion in Bremen