Erhebliche Zweifel an Selbstmordthese

Bad Kleinen vor Gericht: Die Anwälte der RAF-Gefangenen Hogefeld verlangen die Einstellung des Verfahrens / Zentrales Thema ist der ungeklärte Tod von Wolfgang Grams  ■ Aus Frankfurt Gerd Rosenkranz

Zum Auftakt saß der Staat fünf lange Stunden auf der Anklagebank. Formal eingebettet in die Begründung eines Einstellungsantrags nahmen die frühere RAF- Aktivistin Birgit Hogefeld und ihre Verteidiger vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Dienstag in aller Ausführlichkeit die staatliche Version des blutigen Antiterroreinsatzes von Bad Kleinen auseinander. Dabei waren am 27. Juni 1993 der GSG-9-Beamte Michael Newrzella und das RAF-Mitglied Wolfgang Grams unter bis heute nicht geklärten Umständen erschossen worden.

Für Birgit Hogefeld steht fest, daß die GSG 9 auf dem Kleinstadtbahnhof in Bad Kleinen ihren Lebensgefährten Wolfgang Grams „mit einem gezielten Kopfschuß hingerichtet hat“. Ihre Anwälte verlasen erstmals in der Öffentlichkeit das gesamte, im Auftrag der Eltern des Getöteten erstellte Gutachten des Rechtsmediziners Wolfgang Bonte. Die Expertise nährt detailreich die Zweifel an der von der Bundesregierung und der Staatsanwaltschaft Schwerin vertretenen Theorie, wonach sich der schwerverletzte Grams auf den Gleisen liegend selbst den tödlichen Schuß beibrachte.

Aufsehenerregend sind bisher unbekannte Einzelheiten über Zeugenaussagen, die die Anwälte aus den Akten herausfilterten – und die die Staatsanwaltschaft Schwerin in ihrer abschließenden Bewertung im Januar vollständig ignorierte. Von fünf von der Verteidigung benannten und nicht unmittelbar an der Verhaftungsaktion beteiligten Zeugen widersprechen vier in entscheidenden Punkten der von der Staatsanwaltschaft vorgetragenen Version. Danach hatten sich die GSG-9-Beamten dem auf den Gleisen liegenden Grams erst „30 bis 60 Sekunden nach Beendigung des Schußwechsels“ genähert. Gegen diese Version erklärten ein auf dem Stellwerk zur Beobachtung abgestellter BKA-Beamter, ein Beamter des Bundesgrenzschutzes (nicht GSG9), der Lokomotivführer des auf dem Nachbargleis wartenden Zuges und eine unbeteiligte ältere Frau fast übereinstimmend, ein oder zwei Beamte seien Grams „unmittelbar nach dem Sturz auf die Gleise“ nachgesprungen. Nur ein Zeuge bestätigt die von der Staatsanwaltschaft als wahr unterstellte Version.

Während der 5. Strafsenat des OLG unter seinem Vorsitzenden Erich Schieferstein die stundenlange Demontage der staatlichen Lesart des Bad-Kleinen-Desasters stoisch ertrug, drängte die Anklage rasch auf Stopp der Debatte. „Die Umstände, die zum Tode von Herrn Grams geführt haben“, intervenierte Bundesanwalt Walter Hemberger, „haben in diesem Verfahren nichts zu suchen.“ Der Vorsitzende bügelte den Vorstoß ab – mit sechs dürren Worten Richtung Verteidigung: „Herr Rechtsanwalt, bitte fahren Sie fort.“

Tatsächlich hatte die Bundesanwaltschaft die Neuauflage der Bad-Kleinen-Debatte selbst provoziert, als sie Birgit Hogefeld neben mehreren Anschlägen der RAF auch den Tod des GSG-9- Beamten Michael Newrzella zur Last legte und sie in diesem Zusammenhang wegen Mordes und sechsfachen Mordversuchs gegen die anderen Beamten des Festnahmetrupps anklagte. „Zur Mörderin soll die einzige Person gestempelt werden“, sagte Hogefeld-Anwalt Berthold Fresenius, „die mit Sicherheit nicht geschossen hat.“

In einer halbstündigen, in weiten Passagen nachdenklich-nüchternen Prozeßerklärung bekräftigte die von den etwa 70 Zuschauern mit Beifall bedachte Birgit Hogefeld noch einmal die Motive für die Einstellung der RAF-Anschläge auf Wirtschaftsführer und Politiker seit April 1992. Bei der Zäsur gehe es um „den Übergang von einer Widerstandsform zu einer neuen“.

Verschwörungstheoretischen Erklärungsmustern erteilte die RAF-Gefangene eine klare Absage: „Der Mord an Wolfgang war politisch nicht geplant, hätten sie das gewollt, wäre ihnen das in der Bahnhofsunterführung ein leichtes und ohne Zeugen möglich gewesen.“ Allerdings habe die GSG9 in Bad Kleinen „für Sekunden den Vorhang einer möglichen Zukunft aufgerissen“, in der der „nach innen entgrenzte aggressive Staat“ vor dem Hintergrund einer zerfallenden Gesellschaft auch zum Mittel der Liquidierung seiner Gegner greife. Birgit Hogefeld schloß ihre Erklärung mit den Worten: „Es wird keine Rückkehr zur alten Strategie (der RAF; d.Red.) als politisches Konzept geben, aber wir haben unser Recht auf Selbstverteidigung. Ich glaube nicht, daß wir nun widerstandslos unserer Vernichtung zusehen und möchte, daß sich alle über unsere Zukunft Gedanken machen.“

Hogefelds Anwälte verlangten die Einstellung des Verfahrens, weil nach der „regierungsamtlichen Vorverurteilung“, der „Vernichtung und Vereitelung von Beweismitteln“ und zahlreichen „manipulativen Eingriffen der Exekutive“ ein faires Verfahren gegen ihre Mandantin nicht mehr möglich sei. Insbesondere lasse die Regierung ihren V-Mann Klaus Steinmetz „beliebig verschwinden und wieder auftauchen“. Indem die Aussagen Steinmetz' der Verteidigung teilweise vorenthalten würden, schwinge sich die Exekutive „unzulässigerweise zum Herrn des Verfahrens“ auf.

Die Begründung ihres Einstellungsantrags wollen die Verteidiger heute fortsetzen. Das Mammutverfahren, erklärte Hogefeld- Anwältin Ursula Seifert, werde möglicherweise bis zum nächsten Sommer andauern.