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Kathartisches Powerplay

■ Zwischenbericht vom Total Music Meeting: Peter Brötzmann und Shelley Hirsch

Das Publikum ist überschaubar. Auch zum Eröffnungskonzert des 27. TTM kommen nicht mehr Zuhörer als in den Konzertsaal des Podewil passen. Eine eingeschworene Gemeinde auf 250 Sitzplätzen, die Freunde der frei improvisierten Musik, ein internationales Publikum, das sich schon seit längerem vom JazzFest abgewendet hat oder noch nie dort war.

In den Pausen wird der Marktwert der Cecil-Taylor-Box ermittelt, jener monumentalen Dokumentation der Auftritte des anarchistischen Pianisten in Berlin im Jahr 1988. Die limitierte Auflage ist schon seit langem vergriffen. Vergleiche zur Literatur machen die Runde. „Zettels Traum“ und „Finnegans wake“ finden Erwähnung, Werke, die ebensowenig in einem Zug zu erobern sind wie auf Anhieb zu verstehen, ungebremste Zeichen-Ströme, die sich dem Fast-food-Impuls verschließen.

Peter Brötzmann verfügt zwar nicht über die technische Perfektion eines Taylor, aber sehr wohl über die Fähigkeit zur Bündelung der musikalischen Energien seines Ensembles. Oft als monomanischer Exzentriker mißverstanden, besticht der Saxophonist im Podewil durch sein sensibles Zusammenspiel mit Toshinori Kondo, der mit einer elektronisch modifizierten Taschentrompete Sounds beisteuert, die selbst verzerrt noch ihre Entsprechung auf dem Saxophon finden. Kathartisches Powerplay, bis hin zur Schmerzgrenze, bei dem Schreie aus dem Publikum aufsteigen, anfeuernd und entlastend zugleich.

Bei Shelley Hirsch und der September Band zieht der Strom von Zeichen ruhiger dahin, verdichtet sich und mäandert wieder auseinander. „I wanna dance with you“, schleudert Hirsch, sich mutwillig in den Hüften wiegend, in Richtung Hans Reichel, der ungerührt den Doppelhals seiner E-Gitarre mit Klebeband umwickelt, es im Takt wiederherunterreißt, während Rüdiger Carl mit dem Akkordeon einen Tango anstimmt, der irgendwann später in eine Country-and- Western-Parodie einmündet, in der Hirsch sich in Songwriter-Pose begibt, um überzeugungsschwanger den größten Blödsinn zu singen.

Eine Hommage an Berlin beginnt mit dem Satz: „There will be the last train soon, and I'm not on“, begleitet von hektischem Trommeln, und sie endet in einer idyllischen Hinterhof-Ballade mit satter Akkordeonbegleitung. Eine Performance mit viel Witz, mal getupft, mal plakativ, leichthändig allemal.

Diese kann man getrost auch heute abend von den Melody Four erwarten. Das Trio (!), bestehend aus den Engländern Steve Beresford, Lol Coxhill und Tony Coe, besteht schon sehr lange und besitzt einige Übung im Auftischen abgedroschenster Unterhaltung, im Feiern trivialer Melodien aus dem Fernsehen, und ganz unverhofft wird dann auch mal Kunst aus dem Müll.

Ihr gnadenloses Recycling des Klischees macht vor nichts und niemandem halt, auch nicht vor ihrem Publikum, dessen Erwartungen sie prinzipiell zu enttäuschen suchen. Bloß die drohende Konventionalstrafe kann sie davor bewahren, sich auf offener Bühne zu zerstreiten und das Konzert vorzeitig zu beenden. Peter Thomé

„Total Music Meeting“: noch heute und morgen ab 21 Uhr, Podewil, Klosterstraße 68–70, Mitte

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