Geisterhaus der Karibik

Havannas Architektur zeugt von vergangenem Reichtum, aber die früheren Residenzen der Bourgeoisie sind verfallen. In der kubanischen Hauptstadt wächst die Tristesse  ■ Von Oliver Lubrich und Robert Buch

„Die Perle der Karibik“, das einst so glanzvolle Havanna, bietet heute, im 36. Jahr der Revolution, ein trostloses Bild: das einer Geisterstadt, einer Stadt im Zerfall.

Über Kubas Hauptstadt scheint ein Ausnahmezustand verhängt zu sein. Die Prachtstraßen und Alleen der Metropole, ihre Parks und Museen wirken verwaist. Wegen der einschneidenden Benzinknappheit bewegen sich nur wenige der rostzerfressenen und von zahllosen Reparaturen gezeichneten Fords und Chevrolets schwerfällig über die breiten Boulevards. Wie so vieles in Kuba sind sie Relikte einer der ausschweifendsten und zugleich schrecklichsten Epochen in der Geschichte des Landes: der Zeit des Batista-Regimes, das die Insel zum „Bordell der Vereinigten Staaten“ degradierte und dessen Oligarchie dabei eine hektische kulturelle Aktivität entfachte.

Heute bestimmen klapprige Fahrräder chinesischen Fabrikats das Straßenbild. Ihr Klingeln mischt sich mit dem übertriebenen Hupen der Autos, das trotzig die Tatsache ignoriert, daß Kubas Verkehr kurz vor dem Versiegen steht. Die meisten Tankstellen haben ihren Betrieb eingestellt. Lediglich einige Radfahrer fahren an den Zapfsäulen vor und lassen sich ihre Reifen wiederaufpumpen, elektrisch. Bei Stromausfall bilden sich lange Schlangen. Handluftpumpen gibt es so gut wie keine.

Havannas Architektur zeugt von vergangenem Reichtum. Die früheren Residenzen der Bourgeoisie sind verfallen. Jugendstil und Empire, Klassizismus und Barock verbinden sich zu einer nur noch surrealen Kulisse, zu einer steinernen Allegorie des kolonialen Europa.

Die überbordende Ornamentalik scheint des gegenwärtigen Elends, zu dessen bizarrem Schauplatz sie geworden ist, zu spotten: Wäscheleinen, Vogelkäfige und Kaninchenställe auf ausladenden Balkons, zerschlissene Maschinen und Schuttberge in stuckverzierten Sälen, bettelnde Kinder vor herrschaftlichen Portalen.

Armselige Werkstätten haben sich in verkommenen orientalischen Patios eingerichtet. Arbeitslose Handwerker reparieren hier Einwegfeuerzeuge. Die buntgekachelten Trottoirs am Malecón sind zerkratzt, die marmornen Verkleidungen der Treppenhäuser am Prado aufgeplatzt und die kunstvoll geschwungenen Fenstergitter im Vedado vom Seewind angegriffen. „Die rosaroten, grauen, gelben Säulen des einst aristokratischen Viertels waren zerfressen wie Klippen“, stellte schon Graham Greene fest. Seit Jahrzehnten hat man die ausgeblichenen Pastelltöne der zerbröckelnden Fassaden nicht mehr übertüncht.

Havanna ist in der Tat „die Stadt der Säulen“, wie der kubanische Romancier Alejo Carpentier schrieb. Die großen Alleen der Stadt sind von schier endlosen Arkadengängen gesäumt – ursprünglich Ausdruck einer antikisierenden Ästhetik, deren verwitterte Monumente heute nur noch verlorenes Zitat sind.

Zerfallene Villen, Häuserskelette, sinnlos stehengebliebene Torbögen, einzeln emporragende oder umgestürzte Säulen rufen bisweilen den Eindruck einer römischen Ruinenlandschaft hervor.

Teile der Stadt sehen aus, als hätten sie jahrelang unter Wasser gestanden. Andere lassen unwillkürlich den Eindruuck enstehen, Havanna befinde sich im Kriegszustand oder werde seit geraumer Zeit belagert. Alles erinnert hier an ein Gestern, das nie wiederkehren wird, und wartet auf ein Morgen, dessen Hoffnungsschimmer sich gerade erst anzudeuten beginnt.

Über Havanna liegt ein Geruch von Fäulnis: Abfallhaufen verrotten im Rinnstein. Halbgeöffnete Müllcontainer brüten in der Hitze. Scharfer Uringestank steigt aus modrigen Kellerlöchern. Aber auch immer wieder der schwere, süßliche Duft tropischer Vegetation, warme Schwaden, die aus Backstuben dringen, das würzige Aroma von Tabakpflanzen aus den Hallen der Drehereien und Zigarrenfabriken.

Das gleißende Sonnenlicht taucht die Stadt tagsüber in eine flimmernde Hitze, die jegliche überflüssige Bewegung, jede übereilte Geschwindigkeit außerhalb des Schattens der Kolonnaden verbietet. Die meisten Geschäfte in der Hauptstadt des Karibikstaates sind mit massiven, rostigen Jalousien verrammelt. Im Dunkel der wenigen geöffneten Läden herrscht indes eine angenehme Kühle. Hier warten vor meist gänzlich leeren Regalen die Verkäufer. Sie warten, apathisch, auf verlorenem Posten.

Wenn es Abend wird in Havanna, treffen sich kubanische Jugendliche auf dem Gelände stillgelegter Tankstellen. Liebespaare flüchten aus ihren beengten Wohnungen ins Freie. Viele Kubaner sitzen dann auf dem Kai an der Küstenstraße, ohne Kassettenrecorder, mit einer Flasche Rum.

Währenddessen wird in den letzten Hotelbars, Restaurants und Nachtclubs Normalität simuliert. Sie verwandeln sich in Inseln einer falschen Nostalgie, in denen mit absurder Verzweiflung versucht wird, die Erinnerung an ein längst erloschenes Nachtleben zu bewahren.

Diese Enklaven des bescheidenen Luxus sind Touristen vorbehalten und Kubanern, die über US-Dollar verfügen. Seit den Ausschreitungen auf Havannas Uferpromenade am 5. August und der Verschärfung des Embargos durch die USA sind sie wie leergefegt.

Aber noch ist nicht das gesamte Kulturleben der Zweieinhalbmillionenstadt so zusammengebrochen wie die Mauern des José- Marti-Theaters: Weiterhin gibt es Dichterlesungen, Diskussionsveranstaltungen und Konzerte. Trotz der häufigen Stromsperren bieten die Kinos ein umfangreiches Programm auch einheimischer Neuproduktionen. Die vielen ganz in Weiß gekleideten Menschen auf den Straßen bezeugen die wachsende Popularität des afrokubanischen Santeria-Kultes.

Im Hotel „Habana Libre“ blickt Ché Guevara gleichmütig vom Poster auf ein von planwirtschaftlichem Schönheitssinn erdachtes Ambiente. Anderswo stehen gelangweilte Kellner trübsinnig am Tresen, um beim Erscheinen eines der selten gewordenen Reisenden aus ihrer Apathie zu erwachen und in mechanische Geschäftigkeit zu verfallen. Die Mädchen klatschen freudig in die Hände, und im selben Augenblick beginnt eine lustlose Kapelle, „Guantanamera“ zu spielen – getragen und melancholisch und beinahe ohne Publikum.

Im durch Klimaanlagen unterkühlten Lokal „Floridita“ verrichtet eine Überzahl rotuniformierter Kellner mit verfehlt distanzierter Förmlichkeit ihren Dienst am einsamen Gast. Der berühmte Daiquiri wird mit viel Wasser und fast ohne Limonensaft serviert. Und so bleibt, was Ernest Hemingway hierhergetrieben haben mag, ein Rätsel.

Draußen ist es stockfinster. Nicht nur gibt es in Havanna häufig kein fließendes Wasser, auch die Elektrizität wird, mit wechselnder Folge, in jeweils ganzen Stadtteilen abgestellt. Nur der schwache Schein einer Kerze ist dann in manchen Fenstern zu sehen.

Tagsüber sind an den ergrauten Wänden die Parolen der Revolution zu studieren: „Venceremos, cubanos, la victoria está en nosotros. Barrio por barrio – Revolución!“

„Die Revolution“ ist zu einem inflationär gebrauchten Begriff verkommen, dessen genaue Bedeutung niemand mehr zu erklären vermag. Mal scheint er sich auf ein lange zurückliegendes Ereignis zu beziehen, aus dem die Gegenwart wie aus einem Ursprungsmythos ihre globale Rechtfertigung erhält. Dann wieder bezeichnet das Wort einen nunmehr 36 Jahre andauernden Zustand, dessen Zukunft weiterhin ungewiß ist.

Surrende Fahrräder unterbrechen die unheimliche Stille der schlafenden Stadt. Ohne Beleuchtung rasen sie über die zerborstenen Fahrwege. Eine leise tuckernde Limousine gleitet vorbei. Ihr Licht erhellt schlagartig die Säulengänge und wirft gespenstische Schatten auf die langsam abblätternden Parolen an den Hauswänden.