Eine Lektüre der Straße

Stephan Wackwitz liest in Tokio die radikalisierte Moderne  ■ Von Jörg Lau

Die Reiseliteratur kreiste immer schon um den Begriff der Erfahrung. Jemand hatte mancherlei Gefahren bestanden oder sich mindestens befremden lassen; er war zurückgekehrt oder hatte wenigstens Berichte geschickt, wie etwa Robert Louis Stevenson aus der Südsee – „um den Stubenhockern am stillen Herdfeuer einen Begriff von diesem Reize zu vermitteln sowie das Leben von Menschen zu schildern, die alle unsere Zeitgenossen sind, uns jedoch an Denken und Gewohnheit so fremd anmuten wie Barbarossa, die Apostel oder die Cäsaren“.

Das Buch, das der Essayist Stephan Wackwitz „als Angestellter einer westlichen Firma“ zu Beginn der neunziger Jahre in Tokio geschrieben hat, steht zweifellos mit einem Bein in der Tradition solcher Literatur. Oft ist darin von einem Grauen die Rede. Es kommt nicht allein von dem Befremden, das einen etwa im Katastrophenalltag der Tokioter U-Bahn packt: „Zustände der Preisgegebenheit, wie sie in Europa bislang nur in einem Krieg oder auf der Flucht denkbar wären.“

Die Reiseliteratur hat seit Jahrhunderten von den Rändern der erfahrbaren Welt zum Zentrum gesprochen, wo immer es auch jeweils liegen mochte. Der Reiseschriftsteller war ein Moderator zwischen Zentrum und Peripherie, und er beherrschte sein Publikum durch die Angstlust, die von der Vorstellung eines dunkel-unerlösten, unheimlich-anderen menschlichen Lebens am Rande der bekannten Welt erzeugt wird. Heute kommt ein neuer Schrecken hinzu; die alte Ordnung von Peripherie und Zentrum, die den früheren Reisenden Halt und ihrer Rede Sinn gab, erweist sich als unhaltbar und stürzt um. Tokio, die Hauptstadt einer anderen Moderne, ist der Ort dieser Erfahrung.

Japan, und insbesondere die große Stadt Tokio, ist heute die Herausforderung des abendländischen Narzißmus. Roland Barthes hat das vor einem Vierteljahrhundert schon gespürt. In seinem Japan-Buch „Das Reich der Zeichen“ forderte Barthes, man müsse „irgendwann einmal (...) die Zähigkeit unseres Narzißmus ans Licht bringen“. Freilich machte er selber dann im Gegenzug aus Japan ein utopisches Reich der leeren Zeichen, in dem der westliche Besucher beim Haiku-Lesen und bei gutem Sukiyaki eine sehr tröstliche „Befreiung vom Sinn“ erlebt.

Das Tokio, von dem Stephan Wackwitz in zwölf Anläufen erzählt, widersetzt sich solcher Aneignung. „Die in Tokyo versammelte Masse an Welt ist so groß und ihre Schwerkraft so übermächtig, daß der Blick ihr nicht entkommen kann. Ich sah den Fuji in der Ferne – aber die silbergraue Unendlichkeit aus Metall, gegossenem Stein, elektrischen Drähten und fahrenden Autos schien sich bis an seinen Fuß zu erstrecken und verhüllte sich am Rand des Gesichtsfelds in allen Richtungen mit einem braungrauen Dunst, den sie selber erzeugt hatte. Das Panorama vom ,Tokyo-Tower‘ herab war großartig, aber merkwürdig hoffnungslos.“

Stephan Wackwitz erprobt eine untergegangene, halbvergessene Kunst aus den zwanziger, dreißiger Jahren an ihrem angemessenen zeitgenössischen Objekt. Einer ihrer Kernsätze stammt von Siegfried Kracauer: „Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft.“ Damit war zu Beginn der dreißiger Jahre eine Maxime zur Lektüre europäischer – Berliner oder Pariser – Straßen formuliert. Das zeitgemäße Objekt solcher Straßen-Mantik ist heute Tokio, und was Stephan Wackwitz dort zutage fördert, kann sich mit den besten Stücken der großen Vorbilder messen.

Tokio erscheint hier einmal als die Metropole der Angestellten- Weltkultur, dann aber springt das Bild wie bei einer Kippfigur um, und es werden Blicke ins Herz des Archaischen möglich: Im Zentrum der Stadt liegt der verschlossene Herrscherpark des Tenno, eine verbotene Landschaft, deren Stille inmitten der von Highways durchkreuzten Stadt die Projektionen des Fremden auf sich zieht. Wie Wackwitz auf seinen Spaziergängen um das leere Zentrum der Macht und der Stadt lyrisch-theoretisch über die verschiedenen Wege meditiert, die Macht und Sinn genommen haben, als sie ihre Spuren in das Bild der europäischen und asiatischen Herrscherstädte drückten, das ist sehr bestrickend.

Man sollte ihn nicht mit dem heruntergekommenen Prahlwort „Flaneur“ (Verlagswerbung) belegen, das sich ja unvermeidlich einzustellen pflegt, wenn von Kracauer, Benjamin, Hessel e tutti quanti die Rede ist. Auf deren Arbeit bezieht sich Wackwitz in seiner Schreiberei sympathisch offen – „notwendig mit derselben Epigonenhaltung wie (mein Lieblingsbeispiel) die Lounge Lizzards auf John Coltrane“. Nach John Luries Begriff „fake jazz“ hat er den Namen für sein Unternehmen geprägt: „fake essayism“. Sampling, um bei Musikmetaphern zu bleiben, trifft die Sache noch besser, weil durch diese Technik Epigona

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lität endgültig vom Verdacht des bloß Nachahmenden befreit: Immer wieder kann man bei Wackwitz Samples von Ernst Jünger, Michel Foucault, Gottfried Benn oder Aragon heraushören. Einmal wird es ihm selber zuviel, und darauf parodiert er sich sehr witzig: ein Bildungskleinbürger vor Stadtlandschaft, der sich gerne in Zitate auflösen möchte.

Das Buch erbringt den Beweis, daß Epigonalität den Blick nicht trübt, sondern schärft, wenn sie durchgearbeitet ist. Eine seiner eindringlichsten Passagen ist die Lektüre einer jener Hüttensiedlungen, die neben den Hochhäusern das Bild Tokios prägen. Das Hüttenagglomerat unter der Stadtautobahn, das von Ferne zunächst Assoziationen an Favelas wachruft, entpuppt sich beim näheren Hinsehen als Modellsiedlung einer anderen Moderne, einer „dritten Welt“, die den starren Gegensatz von Stadt und Dorf nicht kennt – überall Werkstätten voller Computer, Werkzeug und Maschinen, die selbst am Sonntag schnurren und rattern. Hier werden im Verlagssystem Einzelteile für die großen Konzerne hergestellt. Dörfliche Lebenswelten sind „direkt an die avancierteste Technik angeschlossen worden – ohne den Umweg über Verbürgerlichung und Proletarisierung zu nehmen, der Alteuropa entstehen ließ“. In Europa, schreibt Wackwitz, „war das Dorf ein Sehnsuchtsbild und zugleich ein tragischer Ort, weil dort die Moderne noch nicht vollständig angekommen war. Aber die Hunderttausende japanischer Dörfer, aus denen Tokyo besteht, (...) beweisen, daß das tragisch und romantisch an der Moderne scheiternde Dorf ein Sonderfall gewesen ist oder vielleicht auch nur ein Bürgertraum; daß es vielmehr gerade die bürgerlichen Selbstverständlichkeiten sind, die in einer radikalisierten Moderne nicht mehr fraglos sein können.“

Wackwitz beschreibt die Welt jenseits unseres Gut und unseres Böse, die dort unter Tokios Autobahnen im Entstehen ist, nicht ohne jene Erleichterung, mit der der destruktive Charakter die vertraute Welt in Trümmer gehen sieht. Aber irgendwo sagt er auch, er fürchte sich vor der Revolution, als deren Teil er sich erkennt. Eine Sehnsucht nach der Bürgerlichkeit, die in dieser radikalisierten Moderne zum Untergang verdammt ist, wird in den elegischen Momenten der Essays spürbar. Wackwitz liest sie aus den Business-Anzügen der Tokioter Angestellten, aus ihren Bewegungen, wenn sie nach dem Horror ihres Sklavenalltags im Büro in der Golfanlage großbürgerlichen Gentleman-Träumen nachhängen. Sie ist ihm wohl selber nicht unvertraut. Seine Essays sind am hellsten dort, wo sich nicht mehr entscheiden läßt, ob Genugtuung oder Bedauern die richtige Reaktion auf die Aussichten auf das Ende der alteuropäisch-bürgerlichen Welt ist, die Tokio eröffnet.

Stephan Wackwitz: „Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen“. Essays. Ammann Verlag, Zürich, 186 Seiten, geb., 38 DM.