Als Rentner in den Jugendknast

■ Ein 63jähriger steht vor der Magdeburger Jugendkammer / Die ihm vorgeworfene Tat liegt 44 Jahre zurück, der Richter will das Verfahren trotzdem durchziehen

Wenn der 63jährige Rentner Josef K. Pech hat, dürfte er bald der älteste Insasse eines Jugendknastes sein. Seit Anfang des Monats steht der ehemalige Grenzpolizist vor der Jugendkammer am Magdeburger Landgericht – für eine Tat, die 44 Jahre zurückliegt. Der Vorsitzende Richter Hartmut Krüger will das Verfahren durchziehen. Die Vorstellung, den Rentner gemeinsam mit 16- bis 21jährigen in den Jugendknast zu schicken, erscheint aber nicht nur dem Verteidiger, sondern sogar dem Vertreter der Staatsanwaltschaft skurril. Gemeinsam beantragten sie die Einstellung des Verfahrens beziehungsweise seine Aussetzung bis zu einer Grundsatzentscheidung höherer Gerichte.

Als 19jähriger, so die Anklage, habe Josef K. im Oktober 1950 an der noch weitgehend durchlässigen deutsch-deutschen Grenze bei Beendorf in der Nähe von Helmstedt den Magdeburger Radrenn- Profi Gerhard Oelze erschossen. Oelze war seinerzeit mit seinem Teamkollegen Gerhard Zöffzig mehrmals jährlich per Drahtesel über die Demarkationslinie gefahren. Sei es, um im Westen an Radrennen teilzunehmen, sei es, um dort die im Osten knappen Ersatzteile zu besorgen. Die meisten ostdeutschen Grenzer kannten die Radprofis bereits und ließen sie ungehindert in beide Richtungen passieren. Als der tödliche Schuß fiel, war Josef K. Angehöriger eines Zuges der Grenzpolizei und ganz frisch an der Demarkationslinie stationiert.

Zöffzig war damals gemeinsam mit Oelze nach Hannover gefahren. Auf der Rückfahrt gen Osten passierte es dann: „Ich habe weder Haltrufe noch Warnschüsse gehört, aber auf einmal zischte eine Kugel an mir vorbei“, berichtete der heute 73jährige Zöffzig im Zeugenstand. Sein Teamkamerad fiel mit einem Aufschrei zu Boden. Gerhard Oelze hatte einen Herz- Lungen-Durchschuß abbekommen und war sofort tot.

Unklar ist bislang, ob tatsächlich Josef K. den Todesschuß abgegeben hat. Deshalb soll auch ein anderer Ex-Grenzer als Zeuge gehört werden. Er ging damals mit Josef K. Streife und gab möglicherweise ebenfalls einen Schuß auf die beiden Radfahrer ab. Auch weitere ehemalige Offiziere des Grenzkommandos sollen noch in den Zeugenstand. Richter Krüger hat außerdem alle Prozeßbeteiligten zum Ortstermin geladen.

Für Josef K.s Verteidiger ist das ganze Verfahren absurd. Der Angeklagte sitze vor der Jugendkammer und sei gemäß Jugendgerichtsgesetz allenfalls zu einer Jugendstrafe zu verurteilen. Im Jugendstrafrecht stehe aber der Erziehungsgedanke im Vordergrund, betont der Anwalt. Und der könne auf seinen Mandanten ja wohl kaum noch zutreffen, zumal der seit der Tat vor 44 Jahren ein völlig straffreies Leben geführt habe. Der Verteidiger beantragte deshalb die Einstellung des Verfahrens.

Staatsanwalt Gernot Sottek spann den Faden sogar noch weiter. Die Lücke, die Eingungsvertrag und Verjährungsgesetz hier offenließen, könne nur durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geschlossen werden, so der Anklagevertreter. Er beantragte in einem Atemzug die Aussetzung des Verfahrens und die Anrufung der Karlsruher Richter.

Richter Krüger allerdings sieht keine Gesetzeslücke. Er lehnte die Anträge von Staatsanwalt und Verteidiger ab. Nach dem Verjährungsgesetz sei es vollkommen normal, daß der Rentner vor dem Jugendrichter stehe. Die Tat, die er als 19jähriger begangen habe, sei von den DDR-Behörden nicht verfolgt worden, folglich beginne die Verjährung erst mit dem Tag der deutschen Einheit. Eberhard Löblich