Opposition nach der Wende

Gesichter der Großstadt: Wolfram Kempe, Autor der taz Serie „Fünf Jahre danach“, ist in der Opposition geblieben und heute Mitherausgeber der „Sklaven“  ■ Von Uwe Rada

Als er 1976 von der Schule flog, war ihm Biermann kein Begriff. Wolfram Kempe, damals sechzehn Jahre alt, hatte an die Wandzeitung seiner Schule zwei Gedichte gehängt, aus Solidarität mit einem Mitschüler, dem das Abitur verweigert wurde. Das war im selben November, in dem Wolf Biermann sein Kölner Konzert gab. Der Liedermacher wurde ausgebürgert, Kempe mit Hinweis auf den Liedermacher von der Bezirksschulleitung relegiert. „Erst danach“, erinnert er sich heute, „habe ich mir Biermanns Lieder angehört und gemerkt, daß ich nicht umsonst geflogen war.“ Heute freilich hat er mit Biermann und seinen Epigonen nichts mehr am Hut. Der Autor Wolfram Kempe ist auch nach der Wende Oppositioneller geblieben.

Nach Sätzen über den Zustand der DDR sucht man in seinen Texten vergeblich. Kempes Erzählungen, erst nach der Wende 1990 im Mitteldeutschen Verlag erschienen, handeln von Menschen im Alltag. Kempe läßt sie ihn Ruhe, läßt sie handeln ohne Zutun, schaut ihnen zu, weil er weiß, daß die Verhältnisse ohnehin in ihnen handeln, ob sie es wollen oder nicht.

Diese Art zu beobachten unterschied ihn auch von der sogenannten literarischen Opposition, dem „Prenzlauer Berg“. „Ich wollte über die DDR in der DDR schreiben“, sagt er, „den Prenzelbergern dagegen war die DDR egal, die wollten im Westen Geld verdienen.“ Kempe beteiligte sich statt dessen an der Poetenbewegung der FDJ, obwohl er von 1980 bis 1985 Schreibverbot hatte. 1979 posaunte er einen Anwerbungsversuch der Staatssicherheit in alle Winde hinaus und wurde fortan bei der „Firma“ als Operative Personenkontrolle „Nachwuchsschriftsteller“ geführt.

„Damals“, sagt er, „habe ich mich als Oppositioneller gefühlt, heute weiß ich, daß man das auch als relative Staatsnähe bezeichnen könnte.“ Er sagt das, weil er davon überzeugt ist: „Das war nicht nur das Land der Stasi und der SED, sondern auch unser Land.“ Ein Satz, der ihm im „neuen“ Land nicht über die Lippen kommen würde.

Nach dem Herbst 89 warf Kempe Medizinstudium und Prosa gleichermaßen hin, gründete eine Wochenzeitung, den Anzeiger, und bekam Kontakt zur politischen Opposition der DDR zu einem Zeitpunkt, als selbige sich bereits wieder an den Verhältnissen, den neuen nunmehr, zu scheiden begann. Die einen zogen ins Parlament, Kempe in ein besetztes Haus in der Lottumstraße, war einer der Besetzersprecher am dortigen Runden Tisch und kehrte, als die Verträge für die besetzten Häuser in Prenzlauer Berg und Mitte unter Dach und Fach waren, wieder zurück in seine Zweiraumwohnung in der Kollwitzstraße.

Als „radikalster Vertreter der Bürgerbewegung“, wie ihn seine Hausbesetzergenossen damals bespöttelten, arbeitet er heute mit den „radikalsten Vertretern der Literatenszene“ zusammen. Das Projekt heißt Sklaven, ist, wie Thomas Kapielski einmal bewundernd ausdrückte, „charmant unterhältlich“ und wohl so etwas wie der Versuch, die linksradikale Schnittmenge der politischen und literarischen „Weltanschauungen“ ausfindig zu machen. Ein sozialistisches Wartekollektiv, zu dem ein deutlicher Hang zur Anarchie ebenso gehört wie der einstige „Prenzelberger“ Bert Papenfuß, der heute meint, daß Literatur wieder eine „soziale Kenntlichkeit“ bräuchte. Von Menschen handeln Kempes Texte freilich nicht mehr, wohl deshalb, weil die Verhältnisse nicht mehr in den Menschen handeln, sondern die Menschen in den Verhältnissen. Ob sie es wollen oder nicht.