Geträumte Kindheit

Peter Wawerzinek sieht seine Kindheit auf dem Lande in einem goldenen Licht und hat darüber ein wunderschönes Märchen geschrieben  ■ Von Peter Walther

„Zuviel Mecklenburg“, befand der junge Lektor Siegfried Unseld 1957, nachdem er Uwe Johnsons Romanerstling „Ingrid Babendererde“ gelesen hatte. Während Johnson später die Landschaft seiner Jugend in die weite Welt oder doch zumindest an den Hudson River getragen hat, Christa Wolf und Sarah Kirsch sie als Kulisse für weiter innen Liegendes gebraucht haben, sind solcherlei Ambitionen im jüngsten Buch von Peter Wawerzinek nicht zu erkennen.

Da schreibt einer, der gerade vierzig Jahre alt geworden ist, Erinnerungen an seine Kindheit in Mecklenburg nieder. Nicht daß er sich von einem Trauma befreien müßte. Es gibt auch keine äußeren Gründe – gesundheitlicher Art etwa –, die ihn zur Eile treiben würden. Aber vielleicht ist für den Autor das Gefühl eines Einschnitts von Bedeutung, der ihn auf doppelte Weise von der Landschaft seiner Kindheit trennt. Neben dem zunehmenden Lebensalter hat auch der gesellschaftliche Bruch von 1989 für Entfernung gesorgt. Das Staunen über den „Wundermäher E 701“ mit der „zur Außenwelt hin völlig isolierten Fahrerkabine, in welcher der Bauer, die Bäuerin vom Staub und drastischen Wettern verschont blieb“, das Staunen über solch ein „Sinnbild für Geborgenheit innerhalb einer besseren Gesellschaft“ hat auch in Mecklenburg aufgehört.

Noch etwas anderes mag hinzukommen: Das zwanghafte Bekenntnis zur literarischen Weltläufigkeit, wie es in den achtziger Jahren von der Prenzlauer-Berg- Szene gepflegt wurde (zu der auch Wawerzinek gehörte), hat den Ausbruch aus der Enge nicht lange überlebt. Womöglich war es gerade ein Provinzkomplex, der die geistige Beschäftigung mit der Provinz verhindert hat.

Heute strickt Wawerzinek ungehemmt an der literarischen Verklärung seiner Heimat: „Ich lebte in einer Gegend, die auf allen Bildern langweilig ausschaute. Ein Feld hinter einer Bushaltestelle, ein untersetzter Baum neben erstorbenen Ackerfurchen. Auf weiter Flur ein dickes Pferd, zu faul, mit dem Schwanz Fliegen fortzuwedeln. Ein paar Kühe. Wie ins Gras erbrochen. Ein paar Hügel. [...] Ansonsten nichts zum Verweilen. Mir war an manchen Tagen, als zögen die mächtigen Wetterwolken unbeteiligt und in größerer Hast über Mecklenburg hinweg.“

Es ist ein Buch über die gückliche Kindheit eines Heimkinds, über das Einssein mit der Natur, und eben darum in der Sprache der Märchen geschrieben: „Wir griffen uns mit Schwertern an. Wir fuhren weit hinaus bis nach Hinteramerika. Wir lagen an heißen Tagen faul auf den heißen Planken. Wir kehrten mit Geschichten beladen heim. Wir schlüpften unter die Decke. Wir lagen gekrümmt und hatten der Nachwelt etwas zu überliefern.“ Es ist die Geschichte einer geträumten Kindheit, mit Melancholie erzählt und nicht ohne Trauer über den Verlust eines Zustands, den es so nie gegeben hat.

Jeder Schriftsteller hat einen Vorrat an schönen Sätzen. Bei Wawerzinek scheint dieser Vorrat unerschöpflich zu sein. Die Angst, der Autor verschieße sein Pulver auf den ersten Seiten, weicht mit fortschreitender Lektüre dem Staunen darüber, wie lang sein poetischer Atem reicht. Keine metaphorisch aufgeladenen Landschaftsbilder, sondern eine Reihe schlichter Beobachtungen machen den Reiz des Buches aus: „Man sagt: Jede Gegend hat ihre Deppen und repräsentativen Kreaturen. Aber es gibt einen Hort, von dort aus werden sie in die Welt gesetzt. In den Nestern Mecklenburgs lebten unauffälig außergewöhnliche Mentalitäten. In dem einen Ort hatte man den Eindruck, daß er von Menschen bevölkert würde, die man eben im anderen Ort angetroffen hatte. Und man konnte Bein und Stein verwetten, im nächsten Ort wieder auf die gleichen zu treffen.“

Was Wawerzinek zu erzählen hat, ist unspektakulär. Er kann es in aller Ruhe berichten, in kurzen Sätzen.

Würde man den Spannungsbogen seiner Geschichten auf ein Blatt Papier zeichnen, entstünde das Bild der mecklenburgischen Tiefebene: „Es war einmal ein Streit zweier Großfamilien. Es schlugen sich an die dreißig Mann mitten im Dorf. Mehr an Historie ist nicht zu berichten.“ Zuviel Mecklenburg?

Peter Wawerzinek: „Das Kind, das ich war“. Transit Verlag, Berlin 1994. 123 Seiten, 28 DM