Trucks for Blood, Blood for Trucks

Israel und eine aktuelle Fernsehserie zum Fall Rudolf Kastner – durfte man mit Eichmann verhandeln?  ■ Von Uri Avnery

„Nichts verändert sich – außer der Vergangenheit!“ sagt man hierzulande gern. Nichts erregt Israel so wie Affären, die Jahre zurückliegen, und keine von ihnen hat das Land so aufgewühlt wie der Fall Kastner.

Als das israelische Fernsehen kürzlich eine Dramatisierung der Affäre brachte, entflammte die Debatte aufs neue. Ende letzter Woche gab es sogar den Film zum Film, eine Dokumentation der Reaktionen, die die Serie hervorgerufen hatte.

Der vergessene Held der Angelegenheit war ein alter Herr, Malkiel Grünwald. Anfang der fünfziger Jahre saß er gewöhnlich im Kaffee Vienna in Jerusalem, gemieden als ein ziemlich unausstehlicher Nörgler. Von Zeit zu Zeit verschickte er schlechte Kopien voll übler Verleumdungen. Kein Mensch nahm ihn ernst. Als Chef eines Nachrichtenmagazins erhielt ich diese Papiere auch; gewöhnlich warf ich sie in den Papierkorb.

Eine dieser Broschüren enthielt aber eine ungeheuerliche Beschuldigung: Ein gewisser Rudolf Kastner, zionistischer Funktionär in Ungarn während des Holocaust, hätte Beziehungen mit Adolf Eichmann unterhalten. Dieser hätte ihm 1944 erlaubt, eine Anzahl Juden aus Budapest zu retten, und dafür hätte ihm Kastner geholfen, Hunderttausende von Juden nach Auschwitz zu schicken.

Kastner war mir als ein mittelmäßiger Beamter im Versorgungsministerium in Jerusalem bekannt. Die Idee, daß er mit Eichmann verkehrt hätte, war so lächerlich, daß ich sie schlicht nicht ernst nahm. Eichmann – sechs Jahre vor seiner Festnahme und dem historischen Prozeß – war damals für Israelis ein beinahe mythologisches Ungeheuer. Die Behörden beschlossen, Grünwald wegen Verleumdung zur Verantwortung zu ziehen.

Im folgenden Prozeß kam es zu unglaublichen Enthüllungen. Alles hatte sich 1944 abgespielt. Die Rote Armee war schon den Grenzen Ungarns nahe. Admiral Horthy, der ungarische Reichsverweser, dachte an einen Separatfrieden mit den Alliierten. Die Nazis marschierten ein und installierten eine neue Regierung. Mit ihr kam der Vernichtungsapparat Eichmanns; eine Million ungarischer Juden sollten so schnell wie möglich zur Vernichtung nach Auschwitz transportiert werden.

Kastner, ein kleiner zionistischer Aktivist aus Klausenburg (Kluj) in Transsilvanien, errichtete mit einigen Kollegen in Budapest ein „Rettungskomitee“, mit dem Eichmann tatsächlich Fühlung aufnahm. Er erlaubte Kastner, einen Zug mit ein paar hundert Juden in die Schweiz zu schicken. Darunter waren berühmte antizionistische Rabbiner und auch Kastners Frau und Verwandte.

Was war der Handel? Eichmann schlug Kastner vor, einen Vertrauensmann in die neutrale Türkei zu schicken, um der zionistischen Führung eine Offerte vorzulegen, die als „Trucks for Blood“ berühmt geworden ist. Die westlichen Alliierten sollten der Wehrmacht 20.000 Lastwagen liefern, und als Gegenleistung würde das „Dritte Reich“ die Vernichtung der ungarischen Juden einstellen. Wenn der Vertrauensmann mit einer prinzipiellen Zusage zurückkäme, würden die Transporte nach Auschwitz (10.000 Juden täglich) sofort zeitweilig eingestellt.

Ein gewisser Joel Brandt, Mitglied des jüdischen Komitees, fuhr tatsächlich von Budapest nach Konstantinopel und unterrichtete die zionistische Führung in Jerusalem von seinem Auftrag. Kastners Idee war, daß Brandt bei seiner Rückkehr die Verhandlungsbereitschaft der Alliierten vortäuschen sollte. Die Transporte würden dann eingestellt, und da die Russen im Begriff waren, Ungarn zu erobern, wären Zehntausende gerettet.

Brandt kam aber nicht zurück. Aus Gründen, die noch umstritten sind, fuhr er nach Syrien, das von den Engländern besetzt war. Er wurde als feindlicher Agent verhaftet und nach Kairo gebracht. Dort wurde er verhört und lange festgehalten.

Im Mittelpunkt der Affäre steht die Frage: War Eichmanns Vorschlag ernst, oder war es nur ein typisches Nazi-Täuschungsmanöver, um die Juden einzuschläfern und

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ihre Vernichtung mit Ruhe durchzuführen? Wenn die erste Antwort stimmt, war Kastner ein Held. Er blieb bis zum Ende in Budapest, im Revier des Löwen, und spielte mit vorgetäuschten Karten um das Leben von Hunderttausenden. In diesem Fall kann man den Engländern und auch der zionistischen Führung vorwerfen, nicht alles getan zu haben, um die Juden zu retten.

Wenn aber die zweite Antwort stimmt, dann wäre Kastner ein Verräter gewesen, ein Kollaborateur. (Diese Annahme haben Kommunisten und Antisemiten später benutzt, um die Behauptung aufzustellen, „die Zionisten“ hätten mit den Nazis kollaboriert, um die Juden zu vernichten.)

Ich selbst war und bin davon überzeugt, daß der Vorschlag ernst war – und zwar in einem ganz gewissen Sinne. Der SS-Führer und Vorgesetzte Eichmanns, Heinrich Himmler, wußte damals schon, daß der Krieg für Deutschland verloren war. Er hegte eine Idee, die ihm logisch erschien, obwohl sie beinahe verrückt aussieht: Er würde Hitler stürzen, da dieser für die westlichen Alliierten untragbar sei. Er selbst würde die Macht übernehmen, den Engländern und Amerikanern einen Separatfrieden anbieten und mit ihnen zusammen den Krieg gegen die Bolschewisten zur Rettung der „abendländischen Kultur“ fortsetzen.

Daß Himmler daran dachte, steht unzweifelhaft fest. Er sprach darüber zum Beispiel mit dem schwedischen Grafen Bernadotte. Es ist also durchaus denkbar, daß Eichmanns Vorschlag ein Versuch war, die Juden zu benutzen, um mit den westlichen Alliierten in Kontakt zu kommen. Als überzeugter Antisemit war Himmler natürlich von der grotesken Idee besessen, die Juden beherrschten die Welt und besonders Amerika.

Der Richter im Kastner-Prozeß, der aus Deutschland stammende Benjamin Halevi, hatte von alledem keine Ahnung. Er kam zu der Überzeugung, Kastner habe wirklich mit Eichmann kollaboriert und schrieb in seinem Urteil den unglückseligen Satz, Kastner hätte „seine Seele dem Teufel verkauft“. Der Staatsanwalt legte Berufung ein, darauf wurde die Regierung von einem der Koalitionspartner gestürzt. Als das Oberste Gericht Halevis Urteil mit großer Mehrheit verwarf, war es zu spät: Im Februar 1958 wurde Kastner von einem rechtsradikalen Fanatiker, einem ehemaligen Agenten des Sicherheitsdienstes (Shin-Bet), auf offener Straße erschossen.

Nur ein Vorwurf haftete Kastner auch im Berufungsurteil weiterhin an: Er hatte nach dem Krieg in Nürnberg zugunsten des SS- Standartenführers Kurt Becher ausgesagt und dessen Freispruch erwirkt. Der noch heute in Bremen lebende Getreidehändler Becher war in Budapest als Sonderbeauftragter Himmlers für die Enteignung des riesigen jüdischen Vermögens zuständig. Die Hintergründe der Aussage sind auch jetzt noch unklar.

War Kastner also Nationalheld oder Verräter? Hat die zionistische Führung im schlimmsten Augenblick der jüdischen Geschichte versagt? Das sind Fragen, die in Israel noch immer heftig umstritten sind. Die Überlebenden der Affäre, heute alle über 75, brachten alle die alten Argumente wieder vor, offensichtlich hat keiner von ihnen neue Einsichten gewonnen. Auch diesmal also hat sich die Vergangenheit nicht verändert.