Was wäre wirklich, wenn ...

■ Tagebuchnotizen zum Beginn des Dienstpflichtzeitalters

1. Januar 1998

Gut 700.000 junge Männer und Frauen sind heute für 12 Monate eingezogen worden. Man spricht nicht von Arbeits- oder Zwangsdienst, sondern von einem „obligatorischen Gemeinschaftsjahr“. Es dienen obligatorisch: knapp 100.000 in der Bundeswehr; gut 100.000 im Umweltschutz und rund 5.000 im neu aufgebauten Auslandsdienst („Entwicklungshilfe“). Der große Rest, das sind rund 500.000, sind im Zivil-, Alten-, Kranken- und Pflegedienst tätig.

21. Februar 1998

Laut einer Geheimumfrage unter Dienstpflichtsoldaten haben über 20 Prozent der Militärangehörigen „ein geschlossen rechtsextremes Weltbild“. Selbst Tango warnt halbherzig: „Seit nur noch Freiwillige in die Kasernen einrücken, wird die Armee zum Sammelbecken für Neonazis.“

22. April 1998

Vorlesungsbeginn. Die Hörsäle der Erstsemesterveranstaltungen sind leer. In einem Einführungsseminar an der Uni Köln sind 26 Jungstudiosi anwesend, davon 21 dienstfreigestellte Mütter mit 21 Säuglingen.

26. Mai 1998

Der Pfingstmontag wird zur Finanzierung der milliardenschweren Dienstpflichtkosten gestrichen. „Heiliggeist-Kompensation“ höhnt der Spiegel. „Auch Pfingstmontag ist jetzt Focus-Tag“, kontert München.

2. August 1998

Bei Auslandseinsätzen, insbesondere in angebliche Krisengebiete, wird es einige Male notwendig, uneinsichtige Dienstpflichtige mit Beruhigungsspritzen und Mundknebeln an ihre Einsatzorte auszufliegen.

11. September 1998

Es gibt Krankenhäuser, in denen sind nicht mehr wie früher 10 Prozent der Mitarbeiter Zivildienstleistende, sondern jeder vierte. Die Folge: „Gammeldienst“ und Demotivation wie früher beim Bund. Um dem zu begegnen, werden Nachtwachen vor jedem Zimmer und Mehrfachwaschungen von Bettlägrigen angeordnet.

6. November 1998

Der erste Fall „versuchten Abkinderns“ ist in Bielefeld bekannt geworden. Die 20jährige Anja S., die im vergangenen Herbst wegen Schwangerschaft zurückgestellt wurde, hat sich nur vier Wochen nach ihrer Einberufung zum 1.1.99 erneut dienstunfähig schwanger gemeldet. Sie wurde zur Untersuchung in das Dienstpflichtlazarett Hannover zwangsvorgeführt.

20. Dezember 1998

Die Wirtschaft klagt über den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, weil der 98er Jahrgang nur begrenzt einsatzfähig ist und die 99er kurz vor der Einberufung stehen. „Es gibt viele Vielarbeiter, aber nur wenige Facharbeiter“, klagen die Handelskammern.

24. Dezember 1998

Die taz berichtet, daß Bonn wegen der ständig wachsenden Dienstkosten 1999 die Feiertage Allerheiligen, Fronleichnam, Christi und Mariä Himmelfahrt sowie die Osterfeiertage streichen will. Sie werden auf den 3. Oktober zusammengelegt. Die Kirchen kündigen sehr flexibel für den neuen „Superfeiertag“ Brunchmessen und Drive-in-Abendmähler an.

1. Januar 1999

Der neue Jahrgang läuft in den Dienststellen auf. Diesmal sind es sogar 740.000 junge Frauen und Männer. Bernd Müllender