Kampf um weggelaufene Schäfchen

Evangelische Kirche wettert gegen Jugendweihe-Verein: Ulbricht-Linie / Ex-Senator Krüger hält Angebot nicht für anstößig / Boom bei „Jugendfeiern“ des Humanistischen Verbandes  ■ Von Frank Kempe

Die „Vertrauliche Verschlußsache“ aus dem SED-Zentralkomitee ging als Massensendung an sämtliche Kreis- und Bezirksleitungen der Partei: „In einigen Tagen wird ein Zentraler Ausschuß für Jugendweihe einen Aufruf veröffentlichen“, meldete Walter Ulbricht am 2. November 1954, „in dem dazu aufgefordert wird, entsprechend einem allgemeinen Bedürfnis von Eltern und Schülern alljährlich in der DDR die in ganz Deutschland beliebten Jugendweihen durchzuführen.“ Örtliche Ausschüsse seien von „einflußreichen und fachkundigen Genossen“ zu gründen und zu überwachen. Das „parteimäßige Einwirken“ dürfe aber nicht dazu führen, warnte der ranghöchste DDR-Kirchenfeind, daß letztlich die SED die Jugendweihen organisiert.

Das schon angegilbte Papier ist mittlerweile zum Dreh- und Angelpunkt im endlosen Zank zwischen evangelischer Kirche und der in Berlin ansässigen „Interessenvereinigung Humanistische Jugendarbeit und Jugendweihe“ geworden. Thomas Gandow, Beauftragter für Sekten und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, wirft dem Verein unter Hinweis auf die Direktive vor, den von der SED angezettelten Kirchenkampf fortzuführen. Des Pfarrers Beweis: Anfang November, ausgerechnet zum 40. Jahrestag des Schreibens, gab Vereinschef Werner Riedel im Freizeit- und Erholungszentrum Wuhlheide den Startschuß für die vierte Nachwende-Saison, bei der im Frühjahr 1995 rund 7.000 Berliner Teenager „Abschied von der Kindheit“ nehmen. Jetzt hält der wachsame Pfarrer die „dubiose Vereinigung“ für überführt: „Die Riedel-Truppe“, wettert Gandow, „vertritt die politische Linie Ulbrichts.“ An einen Zufall, wie der Verein behauptet, mag er nicht glauben.

Der Streit ist so alt, wie die DDR tot ist. Der einst vom SED- Staat verordneten Jugendweihe, die sich – geläutert und befreit vom Gelöbnis auf die „edle Sache des Sozialismus“ – über die Wende retten konnte, haftet seither gerade im Westen der Ruch von Traditionspflege sozialistischen Gedankenguts an. In der DDR sollten nach offizieller Lesart alle Achtklässler mit dem Ritual in das „aktive gesellschaftliche Leben“ aufgenommen werden. Wer die Teilnahme verweigerte, nahm Unannehmlichkeiten und den Ausschluß von der Erweiterten Oberschule in Kauf.

Vergangen und vergessen. Die Jugendweihe der neuen Zeit sei „völlig entpolitisiert“ und fördere die Entwicklung der Teenager zu selbständigen, kritischen und verantwortungsbewußten Menschen, meint Riedel, der Erzfeind Gandow eine „ausgewachsene Phobie“ bescheinigt. „Ich weiß nicht“, sagt er kopfschüttelnd, „was ich dem Mann getan habe.“ Zumal er, Vorsitzender der Hellersdorfer FDP, mit „den Roten“ überhaupt nichts am Hut habe. Die „falsche Handhabung“ der Jugendweihe in der DDR stelle doch nicht die ganze Sache in Frage. Hier sei die Toleranz gefragt, die von der Kirche immer gepredigt werde. Auch Thomas Krüger, gerade ausgeschiedener Jugendsenator und geübter Jugendweihe-Redner, kann die Aufgeregtheit Gandows nicht verstehen. Die gewendete Jugendweihe sei „harmlos“. Mit der Ausgrenzung des Vereins, dessen Angebot er „in keinster Weise für anstößig“ hält, könne die Kirche „nicht die weggelaufenen Schäfchen zurückholen“.

Mit der Einschätzung scheint Krüger richtig zu liegen. Am Humanistischen Verband, der Riedel seit neuestem im Westteil mit „Jugendfeiern“ Marktanteile abjagt, hat Gandow nämlich vergleichsweise wenig auszusetzen. Zwar stünde auch beim Humanistischen Verband, der 1995 rund 2.000 konfessionslose Jugendliche ins Erwachsenendasein überführt, der Kommerz im Vordergrund: Die Gewinner des „Familienfestes“ seien Restaurants, Blumengeschäfte, Modefirmen und Party- Service-Unternehmen, meint Gandow. Dafür wildert der Verband partout nicht unter den Getauften. Das Angebot der Interessenvereinigung dagegen, sagt der Kirchenmann, richte sich „an Jugendliche aller Konfessionen, um sie von ihrer weltanschaulichen Richtung zu entfremden“. Wie eben seinerzeit die Obergenossen der SED.

Die Handschrift unverbesserlicher SED-Fans trägt das vom Bertelsmann-Konzern und der Bausparkasse Schwäbisch Hall gesponserte Programm 1995 der Interessenvereinigung wahrlich nicht. Die Liste mit den 450 Veranstaltungen liest sich eher wie das Kursangebot einer Volkshochschule: Neben Koch- und Backkursen werden Workshops für Seidenmalerei sowie Fitneß- und Anti-Gewalt-Training angeboten, ferner Aufklärungsstunden zu Themen wie „Aids – was nun?“ oder „Liebe, Sex und tausend Fragen“. Ganz allmählich erwachsen werden können die Kids zudem bei einer regelmäßigen „Schwimmdisco“ oder bei Info-Abenden zur „gesunden Ernährung im Zeitalter von MacDonald's“. Nebenbei gibt's ganz praktische Tips für die pubertätsgeplagten Großstadtkinder – bei Veranstaltungen wie „Kosmetik für junge Leute“ und „Verdammte Pickel“.