■ Zum Justizministertreffen in Sachen Drogenpolitik
: Ein Jahrhundert der Prohibition

Wieder einmal blickt die Welt auf Hamburg. Dort treffen heute und am Mittwoch die geballten Justizminister der Länder aufeinander, um das Ei zu bebrüten, das im April zu Karlsruhe gelegt wurde. Doch nicht einmal über die Natur des Hanfeis ist man sich einig. Ist es ein Schlangenei, wie Bayern und Baden-Württemberg fürchten? Wird daraus ein pragmatisches Vögelchen schlüpfen, wie Hessen und Schleswig-Holstein hoffen?

Die deutsche Toleranz wird in Gramm bemessen. Da bieten Frankfurt und Kiel 30, Mainz und Dresden 20, Hannover, Bremen und Düsseldorf 10, Potsdam 6, Berlin 5, Stuttgart und München 1, Schwerin, Magdeburg und Erfurt 0, während Hamburg eine Streichholzschachtel offeriert. Davon gibt es bundesweit 39 Größen, Kaminhölzer inbegriffen. So liegt oft nur eine S-Bahn-Fahrt zwischen Bagatelle und Kriminalität. An solchen Grämmern scheint jedoch der ganze Staat zu hängen. „Es geht um die Glaubwürdigkeit der gesamten Drogenpolitik“, warnt Eduard Lintner, parlamentarischer Staatssekretär der CSU im Innenministerium und Bundesdrogenbeauftragter.

Ausgerechnet jenes Land, in dem sämtliche diesbezügliche Substanzen entdeckt, verbessert und auf den (nun meist illegalen) Weltmarkt geworfen wurden, hat sich stets phrasendröhnende Sprachlosigkeit geleistet. Nur Modeworte wurden produziert. Rauschgift ist out, Drogen sind in. Sonst wurde trotz aller Erfahrungen in diesem Jahrhundert auf Prohibition gesetzt und dadurch erst jene mafiosen Strukturen geschaffen, die nun das Hauptproblem sein sollen.

Nüchtern betrachtet ist Drogenpolitik ein von Emotionen und Moralwallungen überlastetes politisches Randgebiet. Die Emotionen entstehen aus genetischen Ängsten des Menschen vor der Natur, bei denen die Vernunft nur Haßliebe erzeugen konnte. So entsteht das Unheimliche. Vom Wald lernt jedes Kind, daß er unsere grüne Lunge ist, aber auch Heimat der Hexen und Räuber in Märchen sowie der Zecken und Fuchsbandwürmer als Substitution für ausgerottete Bären und Wölfe. Ähnliche Ur-Wälder sind Rauschbedürfnisse und Sexualität, von denen sich bislang jede Zivilisation bedroht fühlte und die sie deshalb zu domestizieren versuchte. Erfolglos, wie die Geschichte zeigt. Seit uns der § 175 abhanden kam und der § 218 sich in Lockerungsübungen verbiegt, muß Drogenpolitik als Exerzierfeld des rational verklärten Irrationalen dienen. An dieser Marginalie darf die Politik, der so viele eigentliche Gebiete durch eine rätselhafte Privatisierung abhanden kamen, ihre jeweiligen Prinzipien voll entfalten.

Von der Sache her gehört Rauschmittelpolitik eher in Gesundheits- und Sozialressorts. Aber Willy Brandt wollte 1969 bei der Rundumerneuerung Deutschlands mit diesem ebenfalls anliegenden Igitt-Thema nichts zu tun haben und überließ es einer CDU- Seilschaft. Die reichte von Dr. Oskar Schröder im Bundesgesundheitsministerium, der auch noch das BtMG von 1982 verfassen durfte, über die Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren (einem nachkriegsbedingten Zusammenschluß aller Temperenz-, Abstinenz- und Pietistenvereine) weit in Innen- und Justizbehörden. Die Medizin hielt sich bedeckt, waren doch die Rauschgifte von heute die Pharma-Hits von gestern (und wer weiß, was morgen aus denen von heute wird).

Justiz und Polizei nahmen die neue Bürde anfangs begeistert auf, schuf sie doch viele neue Ressorts. Nur: Das Problem wurde dadurch nicht geringer. „Morphinisten“ wurden seit 1902 statistisch erfaßt. Damals waren es zwei Promille der Bevölkerung. Heute werden rund 160.000 Junkies gehandelt – legal, illegal ... ihr Bevölkerungsanteil ist gleichgeblieben. Geändert hat sich nur, daß sie heute keine Arztpraxen verstopfen, sondern Knäste. Und beim Hanf, mit dem ja angeblich alles Übel beginnt? Von den amtlich geschätzten dreieinhalb bis fünf Millionen Cannabis-Konsumenten suchten 1993 ganze 43 irgendeine Beratungsstelle auf, weil sie das Gefühl hatten, damit nicht zu Rande zu kommen. (Bei Alkohol schätzen die meisten Drogenbeauftragten, daß jeder sechste damit Probleme bekommt.)

Das Vaterland hätte ruhig bleiben, „Keine Macht den Drogen“ wie jede Sprechblase goutieren und sich wichtigeren Problemen widmen können. Seit zwei Jahren aber wird unsere Republik von einer seltsamen Erregung heimgesucht, einer Kollision aus deprimierender Tatsachenerkenntnis und hartnäckigem Illusionswillen. Hat Stalingrad stattgefunden? War der Krieg gegen einen Teilbereich der menschlichen Natur von Anfang an verloren? Sind Friedensabkommen möglich? Die Defätismen kamen ausgerechnet von den Frontgruppen. Polizeipräsidenten fast aller Bundesländer erklären sich für falsch ausgerüstet und falsch eingesetzt. Justizorgane begehen Feigheit vor dem Feind und wenden sich an das Bundesverfassungsgericht. Das bewegt ein Hühnerauge Richtung Pragmatik und verdammt die Politik zu Entscheidungen...

Drogenpolitik ist Schwarzer Peter ohne Karten geworden. Wer muß nun dem Volk nach all dem Brimborium, nach all den Opfern melden, daß schon die Prämissen des Krieges falsch waren, daß auch alle gegenwärtigen Schlagworte samt Legalisierung und Freigabe in die Irre führen? Und wie soll man eine andere Drogenpolitik verkaufen – als Kapitulation oder neue Nachdenklichkeit?

Die wirklichen Fragen sind ganz andere: Kann es sich unsere Gesellschaft leisten, zu den fast viereinhalb Millionen Pharma-Abhängigen auch noch 160.000 Opiat- Abhängige in die Apotheken zu schicken? Müssen Junkies für ihre verbotene (Einst-)Lust mit Elend büßen, oder könnte man sie nicht auch als Opfer einer mißlungenen Selbstmedikation sehen? (In den Apotheken stehen wenigstens Risiken und Nebenwirkungen auf den Beipackzetteln auch von Opiaten.) Und was den Hanf betrifft oder, wenn's sein muß, Cannabis: Müssen wir immer noch Exorzistentänze um eine angeblich kulturfremde Pflanze veranstalten, die für drei bis fünf Millionen Bürger ein (auch medizinisch) ziemlich unschuldiges Vergnügen spendet? Brauchen wir sie für unsere kulturelle Identität? Werden wirklich bei etwas mehr Vernunft „Dämme brechen“? Hat die Homosexualität nach Streichung des § 175 zugenommen?

66 Jahre ist unsere Prohibitionspolitik nun alt, durchaus rentenfähig. Die Drogenpraktiker rufen ein Silberjubiläum lang nach einer neuen Politik. Die Politik dreht ihre Gebetsmühlen. Werden die Justizminister in Hamburg neue Zeichen setzen? Sie werden um justizentlastende Gramm-Mengen palavern, die jedoch weiter beschlagnahmt werden müssen. Der Schwarzmarkt mit seinen Mischsubstanzen sei ja das große Übel. Dort kann man sich dann Ersatz für das Beschlagnahmte besorgen. Immer in kleinen Mengen, sonst wird's kriminell. Das hält die Kiffer in Bewegung und sorgt für Frequenz. Das ist zwar absurd, doch schon unsere Großmütter wußten, daß man von Ochsen nicht mehr erwarten solle als ein Stück Rindfleisch. Hans-Georg Behr

Publizist, lebt in Hamburg