Der letzte Diktator Nigerias

■ Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka über das Regime des Militärdiktators Sani Abacha und das drohende Ende der nigerianischen Geschichte

Es war einmal ein blühendes Volk von einer halben Million in Südost-Nigeria, dem Gebiet der Ogoni, einer ölproduzierenden Gegend, die große ökologische Schäden erlitten hat. Die Schäden sind weltbekannt geworden durch das leidenschaftliche Engagement eines Schriftstellers namens Ken Saro-Wiwa, selber ein Ogoni. Als Führer des MOSOP [Movement for the Salvation of the Ogoni People; d.Red.] brachte er den Untergang der Ogoni vor den Minderheitenausschuß der Vereinten Nationen und verlangte die Anerkennung des Ogoni-Volks als gefährdete Minderheit. Er forderte Entschädigung für Ernteausfälle, vergiftete Fischgründe und die allgemeine Zerstörung all dessen, was einmal eine organische ökonomische Existenz seines Volkes garantiert hatte.

Das war vor zwei oder drei Jahren. Jetzt ist Ken Saro-Wiwa in einem versteckten Gefängnis eingesperrt, völlig isoliert von der Öffentlichkeit. Er ist schwer erkrankt – er leidet unter Herzproblemen – und ist ganz und gar der Gnade eines Sadisten ausgeliefert, eines bekennenden Killers und Folterers, extra ausgesucht für die Aufgabe der totalen „Befriedung‘ Ogoni- Lands. Saro-Wiwas Volk hat sich in die umliegenden Wälder und Mangrovensümpfe gerettet, um zu überleben. Wer in den Townships und Dörfern bleibt, ist Vertreibung, Enteignung, Gewalt und Vergewaltigung ausgesetzt. Ogoni-Land ist zur „Militärzone“ erklärt worden, einem „Sonderkommando für innere Sicherheit“ unterstellt. Aus dieser Enklave werden Reporter – fremde ebenso wie einheimische – vertrieben, manchmal unter Einsatz von Gewalt. Die nigerianische freie Presse wird ständig weiter durch illegale Schließungen reduziert, die die Polizei auf Befehl des Militärs vornimmt. Bald werden selbst jene, die den eisernen Vorhang von Sani Abachas [Chef der nigerianischen Militärregierung; d.Red.] Enklave durchdringen, keine Medien mehr haben, durch die sie die nigerianische Bevölkerung an die Grausamkeiten erinnern können, denen ihre Ogoni-Landsleute täglich unterworfen sind.

Ein Akt der Repression kann sehr leicht einen anderen verschleiern. Das ist ein vertrautes und verständliches Muster, das sich Diktaturen, besonders die zynischen, gerne zunutze machen. Für die Mehrheit der Nigerianer ist Ogoni nur ein entlegenes Problem, weit entfernt von der unmittelbaren Notwendigkeit, das Militär aus der nigerianischen Politik auszurotten, die Nationalvermögen aus ihren schlüpfrigen Händen zu retten und ein für allemal die zur Routine gewordenen Morde an unschuldigen Bürgern in den Straßen von Lagos und anderen besser sichtbaren Zentren der Opposition zu beenden. Die Massaker im Ogoni-Gebiet finden im verborgenen statt, wenig dringt nach außen. In den von der Regierung kontrollierten Medien finden nur jene Massaker die gebührende Aufmerksamkeit, die den Ogoni-Organisationen wie dem MOSOP zugeschrieben werden. Ogoni-Land ist das erste nigerianische Experiment mit „ethnischer Säuberung“, autorisiert und unterstützt von dem nigerianischen Despoten General Sani Abacha. Seine Vollstrecker vor Ort, Lt. Colonel Dauda Komo und Major Paul Okutimo, sind Nigerias Beitrag zu dem schändlichen Register des Kadavergehorsams. Das sogenannte „Sonderkommando“ wird Abachas einziges Vermächtnis an seine Nation sein, Nigerias noch ungewürdigte Mitgliedskarte zum Klub der „ethnischen Säuberer“...

Ogoni-Land ist leider nur der Modellraum für den lang erträumten totalitären Schlag gegen die liberalen, politisch gebildeten Teile des nigerianischen Staates, die es gewagt haben, sich mit der Machtbesessenheit einer winzigen, aber halsstarrigen militärisch-zivilen Hegemonie anzulegen. Die Ogoni sind nur die Versuchskaninchen für eine kranke Lösung der schwelenden Ungleichheit, die die Briten hinterließen, als sie ihre Abreise planten. Deren Nutznießer ist bis heute eine Minderheit, die sich aus einer wohlgenährten Oligarchie und ihren verwöhnten, trägen Nachkommen zusammensetzt.

Erst kürzlich wurde der sorgsam propagierte Mythos einer unkritischen, politisch motivierten Solidarität in diesem Teil der Bevölkerung, dem „Norden“, gesprengt. Erst die nationalen Wahlen vom 12. Juni 1993 bewirkten, daß der Zusammenbruch dieser Fiktion unabwendbar wurde, dank der Durchführung dieser Wahlen, die allgemein als beispielhaft für Fairneß, Ordnung und Beherrschtheit angesehen wurden.

Die Wahlen machten es unabweisbar vor der ganzen Welt, daß der sogenannte Graben zwischen dem Norden und dem Süden eine freie Erfindung der minderwertigen, machttrunkenen Führung war, ein trennendes Ablenkungsmanöver. Es gibt im Norden in der Tat eine Trennungslinie, aber sie verläuft zwischen den Arbeitern, Bauern, Beamten, Kleinhändlern, Studenten, Arbeitslosen auf der einen Seite – und der parasitären Elite mit ihrem feudalen Anhang auf der anderen. Diese kommt nicht zurecht mit der klaren Offenbarung nationalen politischen Bewußtseins, das sich in den Wahlen vom 12. Juni so triumphal zeigte.

Am 23. Juni 1993, dem Tag der willkürlichen Annullierung der nationalen Präsidentschaftswahlen, beging das Militär den verräterischsten Diebstahl aller Zeiten – es beraubte das nigerianische Volk seiner nationalen Einheit.

Wer die Katastrophe verstehen will, auf die die nigerianische Nation zutreibt, tut gut daran, die Persönlichkeiten des gegenwärtigen Diktators und die seiner unmittelbaren Vorgänger zu studieren... Babangidas [General Ibrahim Babangida kam durch einen Putsch 1985 zur Macht und beherrschte Nigeria bis zum August 1993; d. Red.] Liebe zur Macht wurde in ganz konkreten politischen Formeln sichtbar: Macht über Nigeria; Macht, die sich über das ganze, beeindruckend große Staatsgebiet erstreckt, über seine Ressourcen und schließlich über den einflußreichen Status der Nation innerhalb der Gemeinschaft der Nationen. Kurz: Nigerias Potentiale hoben sein persönliches Machtgefühl. Es hat ihn durch und durch korrumpiert, was um so fataler war, als er dann Nigeria voll und ganz mit seiner Person identifizierte und für seinen persönlichen Besitz hielt.

Bei Abacha liegen die Dinge anders. Abacha ist bereit, Nigeria in Schutt und Asche zu legen, wenn er dann auch nur über einen Namen regieren könnte – und Abacha ist ein Überlebender. Das hat er wiederholt bewiesen, selbst in den internen Kämpfen mit Babangida. Es fehlt ihm völlig an Perspektiven oder Visionen; er ist ein Maulwurf, der in einem Labyrinth von Tunneln gefangen ist. An jedem möglichen Ausgang wird er von den Scheinwerfern eines Fahrzeugs geblendet und erstarrt. Wenn das Licht abschwenkt, taucht er auf, um alles, was in seiner Reichweite liegt, zu zerstören. Abacha ist unfähig, dieses Licht genauer zu fokussieren; er könnte nicht erwägen, ob dieser Lichtstrahl ihn aus seiner geistigen Umnachtung herausführen kann.

Abacha hat von Nigeria keine Ahnung. Jenseits der Vorstellung eines Lehens, das pflichtschuldigst seinen enormen Reichtum und nun auch seine Macht vermehrt hat, hat Abacha nicht die leiseste Ahnung von Nigeria. Deshalb ist er auch unfähig, zu verstehen, was ihm Leute aus der Bürgerrechtsvereinigung, von der Kampagne für Demokratie, der nationalen demokratischen Koalition, der Marktfrauen-Organisationen, der Studentenverbände, der Gewerkschaften und der Presse in deutlichen Worten sagen. Keiner von ihnen paßt in sein Bild von der nigerianischen Nation. Nur indem er sie allesamt ausschaltet, indem er all diese abweichenden Stimmen zum Schweigen bringt, kann Nigeria die Einheit beweinen, die er als einziges akzeptiert.

Abacha wird erst zufrieden sein, wenn er alles zerstört hat, was er geistig nicht fassen kann – und das ist buchstäblich ganz Nigeria. Er wird erst Frieden finden, wenn auch die Stimmen, deren Landessprache er nicht identifizieren kann, zum Schweigen gebracht worden sind; und erst wenn er auch den Hutu – wie schon vorher den Tutsi – die Beine abgeschnitten hat, so daß sie eine Größe haben, auf die er hinaufklettern kann.

Aber diese Stimmen und die Geschichte, die hinter ihnen liegt, und ihre große Entschlossenheit haben klargemacht, daß Abacha der letzte Despot ist, der sich Nigeria aufoktroyieren wird. Natürlich wird es andere geben, die der Versuchung nachgeben und den selben illusionären Weg zu beschreiten versuchen werden. Aber ihre Karrieren werden so kurz sein, daß man sie bestenfalls als Eintagsfliege wahrnimmt. Die Strategie im gegenwärtigen Kampf besteht darin, daß die Menschen ein ungeahntes Selbstbewußtsein innerhalb eines nationalen Daseins entwickeln, in dem Antidemokraten als verräterische Verschwörer erscheinen. Dieses Selbstbewußtsein macht die frühere automatische Unterwerfung unter jede auch noch so diskrete Form von militärischem Despotismus unmöglich; es hat sogar einen Hauch von Messianismus.

Die Gefahr, die sehr reale Gefahr liegt im Charakter dieses letzten Fackelträgers der militärischen Dämonologie, diesem mickrigen Samson, der seine Arme um die letzten Säulen geschlungen hat – bereit, das ganze Gebäude mit sich in die Hölle hinabzureißen. Die Hölle, die Ogoni-Land heute ist – das ist genau das, was sich Abachas Hirn unter nationaler Verträglichkait vorzustellen vermag. Was sich seinem Größenwahn in Sachen Macht ebenso wie in persönlicher Bereicherung nicht freiwillig fügt, muß unterworfen und keimfrei gemacht werden. In Sani Abachas selbstgelenktem Schicksal als letzter nigerianischer Despot könnte sich, bedauerlicherweise, das Ende der nigerianischen Geschichte präsentieren.

Aus dem Englischen von Mariam Niroumand und Jörg Lau