„Mit deinem Blut stimmt etwas nicht“

Eine Kita in Berlin, die nur HIV-infizierte Kinder aufnimmt, erleichtert das Leben der betroffenen Familien, wirft aber die Frage auf, ob die Integrationsbemühungen umsonst gewesen sein sollen  ■ Von Vera Gaserow

Der kleine Dachs auf der improvisierten Bühne ist ein possierlicher Kerl, aber der kleine Dachs muß sterben – so will es die Regie. Darum verabschieden sich die anderen Tiere von ihm. Jeder der vierbeinigen Gefährten versucht sich zu erinnern, was der Dachs ihm alles beigebracht und Gutes getan hat. Das macht den Abschied leichter – Berliner Kinder spielen ein Theaterstück, um zu lernen.

Das Stück handelt von Trauer und Tod, und die Akteure tasten sich langsam heran. Ein spielerischer Versuch, sich einem Problem anzunähern, das für die kleinen Schauspieler unausweichlich ist. Die Kinder, die da „Lebewohl, kleiner Dachs“ spielen, stammen aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil mit dem HIV-Virus infiziert ist. Angesteckt im Mutterleib, hatten auch die Mädchen und Jungen zunächst alle das Virus selbst im Blut. Bei einigen zeigt die Immunschwächekrankheit Aids jetzt ihre Symptome. Andere sind gesund, aber man weiß nicht sicher, ob sie auch auf Dauer genug Abwehrkräfte gegen das HIV-Virus gebildet haben.

Aids – eine Krankheit, die so mächtig ist, daß allein hinter dem Namen alles andere zu verschwinden scheint, das Kindsein allemal. Neben ihr muß der Alltag um seinen Platz kämpfen. In Deutschland sind 1.211 Kinder unter 14 Jahren HIV-positiv. 115 von ihnen sind an Aids erkrankt. Einige sind bereits gestorben. Aids und Kinder – was diese Zahlen des Bundesgesundheitsamtes mit statistischer Kühle auflisten, birgt hinter Schrecken und Mitgefühl auch immer noch den Hauch des Spektakulären.

In einer Ladenwohnung im Berliner Altbaubezirk Moabit betreut das „Aids-Forum“ seit Jahren Eltern, die mit dem HIV-Virus infiziert sind. Jetzt hat der Verein eine eigene Kindertagesstätte für die zum Teil selbst erkrankten Kinder aus diesen Familien gegründet. „Aids-Kindergarten“ – Sprach- und Denkfaulheit haben ein heimliches Etikett geprägt, das Medienleute magisch anzieht. Bundesweit ist die Berliner Kita die erste Einrichtung dieser Art.

Doch sie ist nicht unumstritten, denn zunächst scheint sie all die Anstrengungen zu untergraben, die in den letzten Jahren mühsam vorangekommen sind: die Bemühungen, HIV-positive und aidskranke Kinder in reguläre Kindertagesstätten zu integrieren, die Versuche, Ängste und Vorurteile von Eltern zu entkräften, die in praktischen Alltagsfragen immer wieder neue Nahrung für eine Ausgrenzung suchen: Was ist, wenn das HIV-positive Kind im Streit meine Tochter beißt, was, wenn die kleinen Zahnbürsten im Waschraum verwechselt werden, was, wenn beim Indianerspiel heimlich Blutsbrüderschaft geschlossen wird? Gerade scheint es vielerorts gelungen, die Vorurteile abzuschwächen, da kommt jetzt eine Initiative und schafft wieder ein Ghetto für die „Aids-Kinder“, wie die Bild-Zeitung sie ohne Anführungsstriche nennt.

„Wir sind nicht gegen Integration“, versichert Gisbert Rimkus, einer der Erzieher in der neuen, bisher namenlosen Kita des Aids- Forums. „Doch Integration darf nicht zum starren Dogma werden, hinter dem die Kinder verschwinden. Diese Kinder brauchen aufgrund ihrer familiären und gesundheitlichen Situation eine besondere Betreuung. Bei HIV-infizierten Kindern geht es bei jeder normalen Kinderkrankheit schon auf Leben und Tod“, meint Rimkus, „da sind Kita-Mitarbeiter oft überfordert, schnell zu reagieren.“ In einer regulären Tagesstätte müßten die Kinder außerdem für spezielle Therapien, wie etwa die Krankengymnastik und die wöchentliche Reittherapie, die das Aids-Forum anbietet, aus der Gruppe gerissen werden.

Entstanden ist die Idee zu einer eigenständigen Kita denn auch nicht, weil es Abwehr von anderen Eltern gegeben hätte. Entscheidend waren eher die Probleme der Eltern der betroffenen Kinder selbst. Etliche von ihnen sind psychisch und physisch nicht so stabil, daß sie einen normalen Kita-Alltag mit pünktlichen Anfangs- und Schließungszeiten bewältigen könnten.

Sechzehn Knirpse zwischen eineinhalb und neun Jahren werden in der neuen Kindertagesstätte betreut. Anna ist nicht die jüngste, aber die kleinste von ihnen. Anna hat sich im Mutterleib mit dem HIV-Virus infiziert und ist auch erkrankt. Die Hälfte ihres dreijährigen Lebens hat sie in Krankenhäusern verbracht. Die vielen Klinikaufenthalte haben zu massiven Entwicklungsrückständen geführt. Anna kann bis heute nicht laufen, am liebsten kuschelt sie sich in den Arm der Kita-Erzieherin ein. Anna gehört zu den Kindern in der Berliner Kita, von denen Gerda Hansen vom Aids-Forum sagt: „Jeder Tag mit ihnen ist eigentlich ein Geschenk.“

Der vierjährige Timmy ist kerngesund und auf dem Dreirad der King. Doch hinter dem robusten Kerlchen verbergen sich Tragik und die Wechselbäder der Familien, die von dem HIV-Virus betroffen sind. Timmy hat Glück gehabt. Erst kurz nach seiner Geburt hat seine Mutter sich mit dem Virus infiziert. Elke K. wußte seit 1991 von ihrer drohenden Krankheit. Doch da war sie schon mit ihrem zweiten Kind schwanger. Timmys kleine Schwester wurde nur acht Monate alt. Ein Jahr später kam Daniel zur Welt. Er gilt in der Medizinersprache als „exponiert“. Wie alle Säuglinge HIV-infizierter Mütter war auch er zunächst „positiv“. Doch innerhalb der ersten Lebensmonate hat er geschafft, was rund 75 Prozent dieser exponierten Babys schaffen: sein kleiner Körper hat sein eigenes Immunsystem aufgebaut und Abwehrkräfte gegen das Virus mobilisiert. Daniels Bluttests sind inzwischen HIV-negativ. Ob das so bleibt, können die Mediziner nicht versprechen. Vor drei Monaten nun kam Timmys Schwester Jenny zur Welt. Jenny ist „positiv“. Sie muß ständig Medikamente nehmen. Ob ihr Körper in den nächsten Monaten die Kraft haben wird, das Virus zu überwinden, wagen die Ärzte nicht zu sagen.

Elke K., Jennys Mutter, kämpft gegen diese Ungewißheit und die Ungewißheit ihrer eigenen Situation: „Eigentlich“ fühlt sie sich ja „topfit“, aber „eigentlich“ weiß sie auch, daß sich ihre Erkrankung nur aufschieben läßt. Sie hofft, daß ihre Kinder nicht mitbekommen, woran sie leidet – oder daß sie zumindest alt genug sind, es zu verstehen, wenn sie es erfahren. Elke K. versucht, was die Betreuer des Aids- Forums bei vielen Müttern beobachten: Sie will den Kindern möglichst jeden Wunsch erfüllen – aus dem Gefühl heraus, an der Krankheit der Kinder schuld zu sein und aus der ständigen Sorge, noch vor ihnen zu sterben. „Irgendwann“, sagt Elke K., „irgendwann haben sie mich ja nicht mehr. Und da beruhigt es mich, sie in der Kita aufgehoben zu wissen.“

Elke K. ist bisher nicht erkrankt. Sie kann ihren Alltag noch gut organisieren. Andere Mütter, deren Kinder die neue Kita besuchen, tun sich schwer damit. Die meisten von ihnen waren drogenabhängig oder sind es immer noch. So wie die Mutter von Christian und Sandra, die an Aids erkrankt ist, und die es irgendwann nicht mehr geschafft hat, ihre Kinder regelmäßig in eine städtische Kindertagesstätte zu bringen. Durch viele Fehlzeiten und Beitragsrückstände hat sie den Anspruch auf den Kita- Platz verloren. In der neuen Kita holt ein eigener Fahrdienst die Kinder ab und bringt sie nach Hause. Um die Eltern zusätzlich zu entlasten, ist die Einrichtung auch am Samstag geöffnet. Sooft es möglich ist, gehen die Betreuer mit den Kindern auf Reisen. Eine Hilfe, damit die Kinder möglichst lange in ihren Familien bleiben können. Zu der Erkrankung der Eltern kommen oft chronische Geldnot, beengte Wohnverhältnisse, soziale Verstrickungen und Depressionen hinzu – und immer das Gefühl, am Schicksal des Partners oder der Kinder schuld zu sein. Oft ist das Familienleben unterbrochen von ständigen Krankenhausaufenthalten der Eltern, die den Kindern Angst vor Verlust bereiten. „Ganz häufig“, weiß Gerda Hansen, „haben die Kinder massive soziale Schädigungen.“

Gerade die, so meint man im Berliner Jugendsenat, der das Projekt über die normalen Kita-Sätze fördert, ließen sich in einer integrierten Kindertagesstätte besser auffangen. In der aufsichtführenden Behörde sieht man das Konzept der Kita für HIV-betroffene Kinder denn auch mit Skepsis. Man schätzt zwar das große Engagement der dortigen Mitarbeiter, „aber unter Integrationsgesichtspunkten ist eine solche separate Einrichtung problematisch“. Viele der intensiven Betreuungsangebote könnten auch in regulären Kitas geleistet werden.

Beim Berliner „Arbeitskreis zur Förderung von Pflegekindern“, der sich seit Jahren mit der Integration HIV-betroffener und -erkrankter Kinder beschäftigt und die Pflegefamilien dieser Kinder berät, hält man die neue Kita sogar für „überflüssig und kontraproduktiv“. Gleichzeitig weiß man dort, daß die Integration HIV- infizierter Kinder nach wie vor häufig „unlösbare Probleme“ aufwirft. Wenn die Infektion eines Kindes schon vor der Aufnahme in die Kita bei Eltern und Erziehern bekannt ist, dann – so eine Erfahrung des Arbeitskreises – ist „eine Integration nur in absoluten Ausnahmefällen möglich“. Und, darin sind sich die Experten einig, eine „heimliche Integration“ und eine Tabuisierung des Themas können keine Lösung sein.

Oft schon sehr früh nehmen die Kinder das Leiden ihrer erkrankten Mütter oder Väter wahr. So wie die elfjährige Suse, die vom Aids-Forum betreut wird. Suse selbst ist gesund, aber beide Eltern sind an Aids erkrankt. Als ihre Mutter im Sterben lag, war die Elfjährige kaum noch vom Krankenbett wegzuholen. „Der Tod“, meint Gerda Hansen von der neuen Kita, „wird bei uns Thema werden. Wir müssen mit den Kindern daran arbeiten.“ Noch nennen die Kinder selbst ihre Krankheit nicht beim Namen. „Mit deinem Blut stimmt etwas nicht“, sagen ihnen die Ärzte zur Erklärung. Aber das Thema Krankheit und Sterben ist ein Teil ihres Alltags. Die Älteren werden bald in die Pubertät kommen. Allerspätestens dann muß man ihnen sagen, unter welcher Krankheit sie leiden, um nicht andere zu gefährden. Und spätestens dann werden sie zu spüren bekommen, daß Aids eine geächtete Krankheit ist.

Aber wie redet man mit Kindern darüber? Wie erklärt man ihnen, daß sie oder ihre Spielkameraden vielleicht bald sterben müssen? Bisher gibt es dafür wenig Hilfen, an denen man sich orientieren könnte. Gerda Hansen vom Aids- Forum gesteht ein: „Wir haben noch keinen idealen Weg gefunden, damit umzugehen.“ Das Theaterstück vom kleinen Dachs ist nur ein erster Versuch.