■ Dokumentation eines Papiers der beiden Kirchen „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“
: „Keine Verzagtheit!“

Die tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche, die wir gegenwärtig in unserem Land, in Europa und weltweit miterleben, stellen uns und unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vor grundlegende Herausforderungen. Nur wenige Jahre nach dem verheißungsvollen Ende des globalen Ost-West-Konflikts mit der Überwindung von Mauer und Stacheldraht in Deutschland müssen wir feststellen, daß sich anstelle der anfänglichen Aufbruchstimmung und Freude über die erlangte Wiedervereinigung und Freiheit zunehmend Ernüchterung und Enttäuschung, aber auch Gleichgültigkeit und Kleinmut breitmachen. [...]

Wir dürfen die Vereinigung weder in rückwärtsgerichtetem Streit verspielen noch zulassen, daß in den Köpfen und vielleicht auch in den Herzen neue Vorbehalte oder gar Mauern errichtet werden. [...]

Fortentwicklung des Sozialstaats

Besonders besorgniserregend ist die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die eine ernsthafte Bedrohung der Humanität in unserer modernen Industriegesellschaft darstellt. Trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ist Deutschland andererseits nach wie vor ein wohlhabendes Land mit einer hohen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und großer sozialer Sicherheit. Für Verzagtheit und Zukunftsangst besteht daher jedenfalls kein Grund. Um so weniger können und dürfen wir uns mit der zunehmenden Armut und Verarmung mitten in der Wohlstandsgesellschaft abfinden. [...]

Die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme hat sich bisher bewährt und muß sich in der jetzt angespannten Situation weiter bewähren. Die notwendige Erneuerung und Konsolidierung des Sozialstaates ist deshalb in erster Linie unter dem Aspekt zu prüfen, ob und inwieweit seine Leistungsfähigkeit bei erschwerten wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen aufrechterhalten werden kann. Für uns hat dabei über die Überwindung der Arbeitslosigkeit und Armut hinaus die wirtschaftliche und soziale Sicherung der Familien einen besonderen Rang.

Gleichzeitig ist uns in diesem Zusammenhang und darüber hinaus die Gleichstellung der Frauen besonders angelegen. Frauen sind von den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen und Umbrüchen in der Bundesrepublik Deutschland oftmals besonders hart betroffen, vor allem, wenn sie alleinerziehend oder erwerbslos sind. [...]

Schutz von Familien und Frauen

Die hohe Arbeitslosigkeit markiert einen tiefen Riß in unserer Gesellschaft, durch den viele Menschen von der Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand ausgeschlossen werden und der die gesellschaftlichen Beziehungen belastet. In besonderer Weise gilt dies für die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit mit einer Arbeitslosigkeit von einem und mehr Jahren, die einen immer höheren Anteil an der Gesamtarbeitslosenzahl ausmacht. Hunderttausende fühlen sich nicht mehr gefragt, vereinsamen, bekommen Selbstwertprobleme, erfahren gesellschaftliche Diskriminierungen, ziehen sich aus Scham zurück, empfinden Zorn und Wut, fragen nach Schuldigen. Arbeitslose, die über längere Zeit keine Arbeit finden, werden schließlich unfähig, Arbeit zu suchen, und werden zu Menschen ohne Hoffnungen und Erwartungen. Viele werden für Feindbild- und Sündenbockparolen empfänglich. Arbeitslose werden allmählich zu Erwartungslosen. [...]

Angesichts der deutlich gemachten Probleme bedarf es dringend einer verantwortlichen Fortentwicklung des Sozialstaates. Fortentwicklung des Sozialstaates heißt nicht Abbau, im Gegenteil, wir brauchen angesichts der beträchtlichen sozialen Probleme jetzt mehr Solidarität und nicht weniger. [...] Fortentwicklung des Sozialstaates muß vor allem heißen, Aufwendungen dort, wo sie überhöht sind, zu begrenzen, und dort, wo Defizite vorliegen, Verbesserungen vorzusehen. [...]

Bei den notwendigen Veränderungen darf es nicht einfach um die Reduzierung von Sozialleistungen gehen. Vielmehr muß gleichzeitig mit einem Abbau von Subventionen, der Durchforstung der steuerlichen Begünstigungen für Bürger mit höheren Einkommen, die kein unternehmerisches Risiko tragen, und mit dem Abbau der ungleichgewichtigen steuerlichen Belastung kinderloser Ehen einerseits und der Familien andererseits begonnen werden.

Differenziertheit bedeutet, die Sozialleistungen nicht einfach nach Rasenmäher-Methode zu kürzen, sondern den unterschiedlichen Prioritäten nach ihrer sozialen Dringlichkeit Rechnung zu tragen. Zum Beispiel müssen Leistungen für die sozial Schwachen, wie einkommensschwache Mehrkinderfamilien und Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose und Obdachlose, von Kürzungen ausgenommen bleiben. [...]

Wie Armutsuntersuchungen der Kirchen und der Wohlfahrtsverbände gezeigt haben, gibt es in Deutschland trotz der Wohlstandsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte offene und verdeckte Armut in einem Umfang, der eine gezielte Politik der Armutsbekämpfung erforderlich macht, wenngleich die Armut in Deutschland keineswegs so dramatische Ausmaße hat wie in anderen wirtschaftlich entwickelten Ländern, nicht zu reden von vielen Ländern in der Dritten Welt. Etwa 150.000 Obdachlose leben zur Zeit auf der Straße, weitere 800.000 Menschen in Notunterkünften. Etwa 50.000 Kinder leben in Notunterkünften, in Obdachlosenheimen und auf der Straße. Besonders betroffen sind Alleinerziehende, kinderreiche Familien mit geringem Einkommen – besonders bei Ausländern –, ältere Menschen mit geringem Einkommen, vor allem Frauen ohne eigenen Rentenanspruch („verschämte Altersarmut“), Langzeitarbeitslose, Asylbewerber und Aussiedler. Besonders in den neuen Ländern sind viele Menschen durch Armutsrisiken bedroht. Die bestehende Wohnungsnot und die außergewöhnlich angespannte Situation am Arbeitsmarkt verschärfen die Probleme. [...]

Mehr Verstehen, spontane Hilfe

Armut darf nicht als ein Randproblem unserer Gesellschaft mißdeutet und bagatellisiert werden. Armut ist nicht einfach „Schicksal“, es gibt vielmehr neben der Eigenverantwortlichkeit stets auch eine Mitverantwortlichkeit der Gemeinschaft für die Lebenssituation der in ihr lebenden Benachteiligten. Das große Unverständnis breiter Teile der Bevölkerung für die wirklichen Belastungen dieser Benachteiligten ist eine schwere Last nicht allein für die Betroffenen selbst, sondern auch für unser Gemeinwesen. Wir brauchen neben den nötigen strukturellen, präventiven und therapeutischen Maßnahmen auch mehr Verstehen, spontane Hilfe, solidarisches Handeln. (epd/dpa)

Die vollständige (52seitige) Fassung des als Diskussionspapiers gedachten Entwurfs ist zu beziehen über: Katholisches Soziales Institut der Erzdiözese Köln, Selhofer Str. 11, 53604 Bad Honnef; oder: Sozialwissenschaftliches Institut der Evangelischen Kirche, Querenburger Höhe 294, 44801 Bochum