■ Die Kirchen und ihr Diskussionspapier
: Einfach und doch so schwer

Wenn die Kirchen zu ihren Mitgliedern und zur Öffentlichkeit sprechen, dann kann das in recht verschiedener Weise geschehen. Es kann um die Bekräftigung der eigenen Identität gehen oder auch darum, in deren Namen etwas einzuklagen oder zu verteidigen. In der Regel erwartet man, daß die Tonart kirchlicher Äußerungen sich ganz deutlich von der in Werbung und Politik unterscheidet. In diesem Zusammenhang erstaunt die Erklärung der Kirchen „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“. Ohne die Kenntnis der Verfasser würde man ein weiteres sozialpolitisches Papier – ja, von wem eigentlich? – vermuten. Eigentlich nichts Neues und Besonderes und auch kein Kanzelklang. Und man kann sie bereits vorausahnen, die Reaktionen von PolitikerInnen insbesondere aus den C-Parteien, die eine allgemeine Unterstützung erklären, aber dann, wenn es um die in der Stellungnahme aufgelisteten Maßnahmen geht, vorrechnen werden, daß dieser Vorschlag des Papiers zur Steuer- und Familienpolitik oder jener zur Lohnpolitik nicht ganz ausgereift ist, sorgfältig überdacht werden muß usw. Und schließlich: Braucht man die Kirchen für solche Vorschläge? Noch etwas anderes ist bemerkenswert: Das Papier definiert wiederholt solidarisches Handeln sowohl als Frage der Politik und ihrer „Praxis der sozialen Marktwirtschaft“ als auch als „Anfrage an die solidarischen Beziehungen zwischen allen Bürgern“, doch nur eine dieser beiden Dimensionen von Verantwortlichkeit wird näher angesprochen – und zwar die der zentralstaatlichen Politik. Warum nicht ähnlich detaillierte Empfehlungen an die Christenmenschen und alle mit gutem Willen?

Vielleicht empfiehlt es sich aber auch, andersherum zu argumentieren: Womöglich ist diese Staats- und Politikorientierung der kirchlichen Erklärung eine verständliche und richtige Reaktion auf eine Politik, die wohl selten zuvor ihre eigene Verantwortung in Sachen Soziales so klein- und die der Bürger so großgeschrieben hat. Und vielleicht sind gegenwärtig nur die Kirchen in der Lage, so, wie es in ihrer Stellungnahme geschieht, den Common sense zusammenzufassen, der jenseits der Parteipolitik die Masse der Medienbeiträge prägt. Wenn es denn für alles ein ranking gibt, warum dann nicht auch in der Sozialpolitik, wo – wie in der Erklärung der Kirchen – drei Anliegen die ersten Plätze besetzen: 1. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, 2. Maßnahmen, die Arme und sozial Schwache nicht weiter belasten und ihnen so helfen, daß sie „Erwartungslosigkeit“ überwinden können; 3. eine Politik zugunsten der Familien als Kernbeitrag zur Stärkung der sozialen Ligaturen (für diejenigen, die es im Zuge der Individualisierungsdiskussion übersehen haben sollten: mehr als 90 Prozent aller Männer und Frauen zwischen 30 und 60 Jahren in Deutschland sind verheiratet).

Hohe Zustimmung für das Papier ist also wahrscheinlich, Bereitschaft, den Vorschlägen zu folgen, eher unwahrscheinlich – ein Problem, das wir aus der Ökologiediskussion kennen. Politisch blockiert sind heute nicht nur Minder-, sondern auch Mehrheiten. Adalbert Evers

Sozialwissenschaftler an der Universität Gießen