■ Eine neue Volksseuche grassiert in Großbritannien:
: Alles dreht sich um sechs Bälle

London (taz) – Wenn Auswanderer mal wieder zu Besuch in ihre britische Heimat kommen, endet das nicht selten traumatisch. Doch diesmal bin ich besonders irritiert. Der Grund: Großbritanniens neue National-Lotterie. Gestartet wurde sie am 14. November, und schon dominiert sie jeden Bereich des öffentlichen Lebens. Die Lotterie, die ein Viertel des Gewinns wohltätigen Zwecken spendet – wie Sport- oder Kunstveranstaltungen – ist die erste in Großbritannien seit mehr als 150 Jahren.

Als im vergangenen Sommer der Jackpot der deutschen Lotto- Gesellschaft auf über 30 Millionen Mark anschwoll und meine normalerweise gesunden Freunde sich dermaßen über diese sechs Nummern erregten, dachte ich schon, die deutsche Gesellschaft würde ernsthaft erkranken. Doch das war nur ein kleines Wehwehchen im Vergleich zur gegenwärtigen Lotto-Mania in Großbritannien. Stundenlang standen die Leute Schlange vor den Geschäften, um sich Lose zu kaufen. Sie holten sich Rat von Astrologen, die auch prompt eine neue Verbindung mit den Sternen aufnahmen. Die Statistik spricht Bände: 25 Millionen – die Hälfte aller Einwohner – kauften Lose im Wert von umgerechnet etwa 2,50 Mark. Mehr als eine Million von ihnen gewannen je 25 Mark. Sieben teilten sich den Jackpot, jeder von ihnen erhielt 2,1 Millionen Mark.

Die erste Lotto-Ziehung wurde am Samstag, dem 19. November um 20 Uhr live auf BBC übertragen und von über 21 Millionen Menschen verfolgt. Genau wie in Deutschland dreht sich dabei alles um sechs kleine Bälle, die irgendwann aus einer Plastikröhre herauskullern. Doch in Großbritannien gibt es zusätzlich noch ein einstündiges Aufwärmprogramm, in dem 49 „gewöhnliche“ Leute (so die BBC) in einer geradezu lächerlichen Game-Show gegeneinander antreten. Dabei geht es lediglich um um die Ehre, jenen Knopf drücken zu dürfen, der die Lotto- Maschine in Gang setzt. Der Moderator der Sendung erkor die flaue Show schamlos zum „größten Moment britischer Fernsehgeschichte“. Und auch John Major, Großbritanniens äußerst „gewöhnlicher“ Premierminister, dessen Loseinkauf live im Fernsehen zu sehen war, war begeistert von der „Lotterie des Volkes“.

Die Boulevardpresse ebnete den Weg, der das Lotto-Fieber zur Volksseuche werden ließ. Der linksgerichtete Daily Mirror brachte zum Beispiel neun (!) Seiten über die Lottosendung und setzte eine Belohnung für jeden aus, der einen Lottogewinner kennt: „Geben Sie dem Mirror eine Exklusiv-Story, und Sie erhalten 25.000 Pfund!“ Ganz nebenbei bemerkte die Zeitung, daß „Lotto- Gewinner psychologische Hilfe“ gebrauchen könnten. Hugh Williamson