Nostalgie und schlitzohriger Kapitalismus

Das litauische Vilnius ist auch für Polen und Weißrussen eine „heimliche Kulturhauptstadt“ / Wird das unabhängige baltische Land seine Vielfalt auch künftig erhalten?  ■ Von Klaus Bachmann

Der Friedhof von Turgeliai verrät, daß diese Gegend nicht immer litauisch war. Hier, nur wenige Kilometer von der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt, finden sich auf fast allen Gräbern polnische Namen. Und die sie an diesem Samstag nachmittag pflegen, sprechen überwiegend polnisch und russisch. Unter den 750 Einwohnern des Ortes gibt es nur vier litauische Familien, weiß eine pensionierte Lehrerin, die in der Nähe der Dorfkirche wohnt.

Wie viele der polnischen Dorfbewohner hält sie nicht viel davon, daß das baltische Land nun seit mehr als drei Jahren unabhängig ist. Nicht nur, weil sie seither alle Eingaben statt wie bisher in russisch jetzt in litauisch abfassen muß. Viel wichtiger ist, daß ihr Sohn und seine Frau arbeitslos sind: „Als die Auflösung der Kolchosen beschlossen wurde, ging die Produktion zurück, weil jeder, der säte, nicht wußte, ob die Ernte nicht einem anderen gehören würde. Heute verdienen die Kolchosarbeiter gerade noch zehn Dollar, viermal weniger als die Mindestlöhne in der Stadt.“

Aldona Dzieniene, Expertin der Regierung, gibt zu, daß die landwirtschaftliche Produktion durch die Privatisierung sehr zurückgegangen ist. „Aber“, sagt sie, „wir produzieren trotzdem noch zuviel und können gar nicht alle Überschüsse exportieren, weil sie für unsere östlichen Nachbarn jetzt zu teuer sind.“ So kommt es, daß viele Dorfbewohner abwinken, wenn zu sowjetischen Zeiten enteignete Grundstücke reprivatisiert werden. Nur im Umkreis von Vilnius gibt es Nachfrage, „die Leute hoffen, den Boden teuer an Städter verkaufen zu können, die sich dort ihr Wochenendhäuschen hinstellen wollen“, erklärt ein Pfarrer in der Nähe von Turgeliai. Deshalb empfinden die Polen in den Dörfern die Pläne der Regierung, den Stadtkreis Vilnius auszudehnen, als Diskriminierung: Innerhalb der Stadt werden größere Grundstücke nicht reprivatisiert.

Auf das, was sie als Schikanen der Zentralregierung empfanden, reagierten die litauischen Polen schon 1990 mit der Ausrufung eines „Autonomen Gebietes im Rahmen der Sowjetunion“ – ein „Dolchstoß“ in den Rücken der litauischen Unabhängigkeitsbewegung, wie viele Litauer finden. Andererseits herrscht auf den Dörfern um Vilnius immer noch Polen- Nostalgie: „Unter Polen war alles besser“, heißt es dann.

„Unter den Polen“, das heißt in der Zwischenkriegszeit, nach dem der polnische General Zeligowski 1920 mit seinen Truppen die Gegend um Vilnius Polen einverleibt hatte. Diese Zeiten haben die Litauer bis heute nicht vergessen, zuletzt verlangten sie, Polen müsse die Annexion von Vilnius in einer gemeinsamen Erklärung beider Regierungen nachträglich verurteilen.

„Vilnius kam durch den Hitler- Stalin-Pakt zu Litauen, durch den gleichen Pakt, der Litauen seiner Unabhängigkeit beraubte“, erklärt Sarhiej Dubaviec, Chefredakteur der weißrussischen Wochenzeitung Nascha Niva. „Für die Litauer bedeutet das, daß sie bis heute unsicher sind, ob ihr Besitztitel für die Stadt auch wirklich sicher ist.“

Stadt zahlreicher hervorragender Künstler

Mit Mißtrauen verfolgen die Litauer jedoch nicht nur die Polen, sondern auch Weißrussen, denn für beide Nationen ist Vilnius die heimliche Kulturhauptstadt. Viele Polen haben den Verlust der Stadt, die so viele hervorragende Künstler und Schriftsteller wie Krakau, Warschau und Lemberg hervorbrachte, bis heute nicht verarbeitet. „Für die Weißrussen war Vilnius immer die Hauptstadt ihres Landes“, erläutert Sarhiej Dubaviec, „für viele ist es bis heute das kulturelle Zentrum. Minsk war immer nur eine Provinzstadt. Vor dem Krieg gab es in Vilnius 30 weißrussische Organisationen, Zeitschriften, Verlage, Kulturvereine“, erklärt er. Und schließlich sei ja selbst das Großfürstentum Litauen, das im 17. Jahrhundert mit Polen vereinigt wurde, eigentlich ein weißrussischer Staat gewesen: „Weißrussisch war die Amtssprache.“ Ein These, die in Weißrußland seit der Unabhängigkeit sehr populär, für polnische und litauische Historiker aber gleichermaßen unverdaulich ist.

Heute herrscht in der Altstadt von Vilnius eine seltsame Stimmung aus Nostalgie, Dekadenz und aufblühendem Kapitalismus jener schlitzohrigen, mafiosen Ausprägung, wie sie typisch für die frühere Sowjetunion ist. Fremdenführer weisen darauf hin, daß in dieser Kirche der Altstadt die Madonna der Hohen Pforte und dahinter die polnische Botschaft befindet. Daß einige Schritte weiter ein Lokal ist, in dem sich die Mafiosi des Landes treffen, daß alle die hübschen neuen Läden voller Westimporte sind und die kleinen Kneipen der Altstadt Schutzgelder bezahlen, sagen sie natürlich nicht.

Seit anderthalb Jahren ist der Litas stabil und exakt 25 Cents wert. Seither bekommt man in den Läden am Gediminas-Prospekt eher westliche Eiscreme und Mode aus Paris und Hamburg als einheimische Produkte. Der Handel explodiert, Warteschlangen sind verschwunden, Banken, Hotels, Restaurants und Warenhäuser machen sich breit. Auf der Straße hört man Litauisch, Polnisch, Russisch, Weißrussisch, manchmal sogar Ukrainisch. Doch wie lange wird dieser Schmelztiegel noch existieren? Chefredakteur Sarhiej Dubaviec ist skeptisch: „Es gibt bei vielen Litauern Bestrebungen, Vilnius zu lituanisieren.“ So wird unter der Sowjetunion enteigneter Besitz nur an Bewohner zurückgegeben, die litauischer Abstammung sind. Und selbst bei der Reprivatisierung des Kircheneigentums ist man zurückhaltend. Denn in der Stadt gibt es eben auch eine weißrussische, eine polnische, eine russische, eine ukrainische und eine armenische Gemeinde.

Andererseits könnten die durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen „Bevölkerungsbewegungen“ die kulturelle Vielfalt der Stadt erhalten. Schon jetzt flüchtet die Jugend der überwiegend polnischen Dörfer um Vilnius vor der Armut in die Stadt. In die frei gewordenen Häuser ziehen immer mehr Weißrussen von der Ostgrenze ein. Viele von ihnen kamen allerdings noch zu sowjetischen Zeiten aus Weißrußland. Schon damals verdiente man in Litauen besser als in Weißrußland. Manche Polen sehen das als Bedrohung ihres Besitzstandes an, doch viele der Weißrussen schicken ihre Kinder in polnische Schulen. Und so wird Vilnius wohl zu einer Stadt der zwei Kulturen werden, der litauischen und der polnischen.