Unantastbares Alfabet

■ 1996 wird die deutsche Rechtschreibung neu geregelt

Berlin (taz) – Die einst eherne Regel „Trenne nie das s vom t, denn das tut den beiden weh“, sie fällt. Und manches mehr. Mit großer Einmütigkeit haben Wissenschaftler und Kultusbeamte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gestern in Wien die erste Rechtschreibreform nach fast 100 Jahren beschlossen. Die standhaft dudenfeste deutsche Schriftsprache wird ab dem 1. September 1996, spätestens aber 1997 in ein fließendes System aus Groß- und Kleingeschriebenem, Eindeutschungen von Fremdwörtern und Trennungen nach Sprechsilben verwandelt. Man sei sich einig geworden, die Schriftsprache „logischer und damit leichter erlernbar“ zu machen, wertete Fritz Rosenberger vom österreichischen Unterrichtsministerium das Ergebnis.

1901 beschlossen und in einem Regelbüchlein festgelegt, scheiterten alle Reformbemühungen an der Sturheit von Beamten aus der Verwaltung. Auch die neue Rechtschreibung kann sich nicht zu der von Sprachwissenschaftlern geforderten generellen Kleinschreibung entschließen. Ungelöst bleibt zudem die Vereinfachung von im Selbstlaut gleichartigen Silben wie bei „rot“ und „Boot“, die weiterhin in der Schrift unterschieden werden müssen. Ebenfalls unverändert bleibt der „Fuß“, Kuß dagegen wird fortan „Kuss“ buchstabiert. Abc-Schützen können trotzdem noch immer nicht aufatmen: Zwar soll das leidige „ß“ im konjunktivischen „daß“ ganz verschwinden, die Regeln für einfaches und doppeltes „s“ aber nicht. In vier Fällen immerhin wurde die vorsichtige Eindeutschung von Fremdwörtern verhindert. So wird es weder Tur (heute: Tour) noch Dubel (Double), Siluette (Silhouette) oder Piruette (Pirouette) geben. In zahlreichen anderen Fremdwörtern allerdings wird „ai“ zu „ä“, wie bei Polonäse. Das neue „Alfabet“ scheint damit allerdings ziemlich gewöhnungsbedürftig. In der Zusammen- und Getrenntschreibung schließlich wird es Ausnahmen geben: „totschießen“ darf nicht zu „tot schießen“ werden. Eine sanfte Revolution: Für die Zeit des Übergangs sind im Schulwesen und für Behörden fünf Jahre eingeplant. Danach soll die neue Rechtschreibung für lange Zeit unantastbar sein, erklärte der deutsche Universitätsprofessor Gerhard Augst. Harald Fricke

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