Zufällig die Brille vergessen

Zwischen 500.000 und vier Millionen Menschen haben keine ausreichenden Schreib- und Lesekenntnisse / Analphabetismus war in der DDR ein Tabu  ■ Von Anja Dilk

Sie fühlen sich ausgeschlossen, dumm, minderwertig. Die Furcht, entdeckt zu werden, überschattet ihren Alltag. Mit kleinen Tricks schlängeln sie sich durch den Buchstabendschungel. Beim Gang zur Behörde ist dummerweise die Brille abhanden gekommen, ihr Waschmittel erkennen sie an der Farbe der Packung. Für Leute, die nicht lesen und schreiben können, ist es schwer, in dieser Gesellschaft zu bestehen.

Einst überwunden geglaubt, ist Analphabetismus heute auch in entwickelten Industrieländern weiter verbreitet, als manche denken. Darüber, wie viele Menschen mit eklatanten Lese- und Schreibschwierigkeiten es hierzulande gibt, existieren allerdings nur vage Schätzungen. Zwischen 500.000 und vier Millionen könnten es nach Auskunft der Weltkulturorganisation Unesco sein. Um mehr Klarheit zu schaffen, beteiligt sich die Bundesregierung zur Zeit an einem europaweiten Forschungsprojekt, in dem Umfang und Qualität des Analphabetismus in Europa untersucht werden.

Wurde Analphabetismus in Deutschland vor zwanzig Jahren noch wenig beachtet, ist er in den vergangenen Jahren verstärkt ins Bewußtsein getreten. 8,5 Millionen Mark stellte die Bundesregierung seit Beginn der 80er Jahre für verschiedene Modellprojekte zur Erforschung des Analphabetismus und entsprechende Kurse zur Verfügung. Etwa 15.000 Erwachsene nehmen daran teil, weil sie – endlich – lesen und schreiben lernen wollen.

Seit Oktober 1992 läuft auch in den neuen Bundesländern ein Projekt, um die Voraussetzungen für eine Infrastruktur zur Alphabetisierung zu schaffen. Dazu gehört konzeptionelle Hilfe ebenso wie Informationen für Bildungseinrichtungen und die Weiterbildung der Kursleiter. Denn daß es Analphabetismus auch in der ehemaligen DDR gab, ist zwar längst kein Geheimnis mehr. „Aber Analphabetismus war in der ehemaligen DDR ein Tabuthema“, meint Monika Tröster, Leiterin des Projekts Neue Bundesländer am Institut für Erwachsenenbildung des Volkshochschulverbandes. „Wer keine ausreichenden Lese- und Schreibfähigkeiten besaß, wurde an Arbeitsplätzen untergebracht, wo dies kaum noch eine Rolle spielte.“

Mit der Wende kamen Arbeitslosigkeit, neue berufliche Anforderungen. 67 Prozent der nachfragenden Betroffenen, so ergab eine Studie des deutschen Instituts für Pädagogische Forschung, konnten nicht an Weiterbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen teilnehmen, weil ihnen dafür elementare Qualifikationen, unter anderem Lese- und Schreibkenntnisse, fehlten.

„Die weite Verbreitung des Analphabetismus wird zu einer neuen Art der sozialen Schichtung führen“, meint Klaus Ring, Geschäftsführer der Stiftung Lesen in Mainz. „Die Schere wird sich öffnen zwischen jenen, deren allgemeine Aufnahmefähigkeit aufgrund mangelhafter Kenntnisse der Schriftsprache beschränkt ist, und den Lesekundigen, die dank der neuen Technologien immer schneller dazulernen.“ Pädagogischen und soziologischen Studien zufolge sei Lesefähigkeit die Voraussetzung für eine effektive Aufnahme von Informationen auch aus elektronischen Medien, Computern und Datennetzen.

Um für eine wirksame Vernetzung und Koordination der Alphabetisierungsmaßnahmen zu sorgen, haben sich im Oktober vergangenen Jahres rund 65 Organisationen zur „Bundesarbeitsgemeinschaft Alphabetisierung“ zusammengeschlossen. Dazu gehören unter anderem die Mainzer Stiftung Lesen, der Ernst-Klett- Verlag und der deutsche Volkshochschulverband.

Grundlage effizienter Maßnahmen ist eine gründliche Ursachenforschung. Wieso können Menschen in einem hochindustrialisierten Land mit Schulpflicht nicht richtig lesen und schreiben? In den Industrieländern gibt es zwar nur wenige Menschen, für die Buchstaben nichts als Hieroglyphen sind. Die Mehrzahl der Betroffenen gehört jedoch zu den funktionalen oder sekundären Analphabeten. Dazu zählt man all jene, die mit dem Lesen und Schreiben derartige Probleme haben, daß sie nicht ohne Schwierigkeiten am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Einen Brief zu schreiben oder die Aufschrift auf Medikamenten-Packungen zu entziffern wird zum Problem, am Arbeitsplatz sind schriftliche Anforderungen eine kaum überwindbare Hürde.

„Mit Dummheit hat Analphabetismus in der Regel nichts zu tun“, meint Monika Tröster. Meist spielt die Kombination von familiären, schulischen und individuellen Faktoren eine Rolle. Schwierige, finanziell unsichere Familienverhältnisse und ein aufgrund der häuslichen Umgebung mangelhaftes Selbstwertgefühl sind typisch. Unter diesen Umständen fällt es schwer, eine auf Selbstvertrauen aufbauende Lerngeschichte zu entwickeln. Das setzt sich oft in der Schule fort. Lernschwierigkeiten werden dann als Versagen erlebt, das in die soziale Ausgrenzung führt. Und haben sich die Lücken erst einmal aufgetan, ist der Anschluß schnell verpaßt.

„Es gibt viele Schnittpunkte im Leben, an denen Menschen zu Analphabeten gemacht werden können“, meint Elisabeth Fuchs-Brünninghoff vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung. „Zentral ist der Umgang mit Fehlern in der Schule und beim Berufseinstieg.“ Wer für Fehler immer nur bestraft werde, könne kein positives Selbstbild entwickeln.

„Gerade in einem Land mit einem sehr hohen Dienstleistungsbereich haben Analphabeten ganz schlechte Berufschancen“, meint Klaus Ring von der Stiftung Lesen. Das Wichtigste in den Augen der meisten Experten ist denn auch die Prävention. Die Stiftung Lesen unterstützt eine Vielzahl von Projekten zur Leseförderung in Kindergärten, Schulen und Bibliotheken. „Aus unseren Erfahrungen mit gescheiterten Lernkarrieren müssen wir Konsequenzen für den Unterricht an Grundschulen ziehen“, meint Monika Tröster. „Das heißt besonders geschulte Lehrer, ein pädagogisches Konzept, das Spaß am Lernen vermittelt, und möglichst kleine Klassen.“

In den neuen Ländern haben sich seit 1992 das Angebot an Alphabetisierungskursen sowie die Teilnehmerzahlen verdreifacht. So gibt es inzwischen auch an Volkshochschulen im Osten Berlins ein umfangreiches Angebot an Lese- und Schreibkursen. Gleichzeitig hat sich allerdings das Leseverhalten geändert. Während vor dem Fall der Mauer das Buch in der ehemaligen DDR auf Platz eins in der Freizeitgestaltung stand, ist es nun auf Platz sechs gesunken.

Schon aber laufen manche Projekte Gefahr, wieder eingestellt zu werden. „Im Moment leiden viele Bildungseinrichtungen unter der Mittelkürzung“, sagt Elisabeth Fuchs-Brünninghoff vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung. Dies trifft Alphabetisierungskurse besonders hart. Wegen des größeren Personalaufwands sind sie fast dreimal so teuer wie ein normaler Sprachkurs. „Die Mittelkürzung in diesem Bereich ist unverantwortbar“, meint Fuchs-Brünninghoff, „schließlich ist Elementarbildung ein Grundrecht.“