Tot vor Unsterblichkeit

Randbemerkungen zum 150. Geburtstag von Friedrich Nietzsche  ■ Von Gabriele Goettle

Südwestlich von Leipzig, etwa auf halbem Wege nach Naumburg, befindet sich das kleine Dorf Röcken, in dem am 15. Oktober 1844 Friedrich Nietzsche geboren wurde. Ein am Straßenrand stehendes zierliches Hinweisschild mit dem Portrait des Philosophen soll darauf aufmerksam machen, springt aber dem Vorbeifahrenden weit weniger ins Auge als die Werbung für „DIENER'S Schießhalle – Revolver & Pistolenstände – alle Kaliber“.

Der Ort besteht aus einigen sehr großen alten Vierkanthöfen und vielen kleinen Höfen, die Wand an Wand aneinanderkleben und zu den Straßen hin abweisend ihre Tore geschlossen halten. Daneben gibt es noch ein ehemaliges Gutshaus sowie Kirche, Rathaus und ein Gasthaus zur Linde, das aber außerhalb des Dorfes, direkt an der Landstraße liegt. Am Eingang des Ortes wird der Besucher auf der Wand eines Häuschens in Fraktur herzlich willkommen geheißen. Gleich daneben, was auf den ersten Blick aussieht wie ein heruntergekommenes Freibad, ist der Schwanenteich, untergebracht im betonierten Becken, mit Geländer, Entenhäusern und künstlicher Insel. Ein Schwanenpaar treibt durchs Schmutzwasser auf mich zu, gefolgt von zwei graubraunen Jungschwänen, die in hohen Tönen dagegen protestieren, daß ich mit leeren Händen unnütz herumstehe. Neben der Fahnenstange grast eine dunkle Zwergziege am Beckenrand. Über dem Dorf liegt abendlicher Friede, nach und nach kehren auch die Pendler zurück und die Grillmobile der „Max & Moritz Grillhähnchen GmbH“.

In der Mitte des Dorfes steht die kleine romanische Kirche, umgeben von dem winzigen ehemaligen Friedhof. Direkt an der Kirche drei schlichte Grabplatten nebeneinander, rechts ruhen die Eltern, links Friedrich und in der Mitte die Schwester, Elisabeth Förster- Nietzsche. Ein wenig irritiert wird die Sachlichkeit durch zwei eben erst in den kümmerlichen Boden eingegrabene Rosenstöcke. Über dem ganzen Ensemble hängen die Zweige einer Eibe (an der übrigens alle Teile lebensgefährlich giftig sind, bis auf die honigsüße fleischfarbene Fruchthülle) und verdecken fast eines jener Emailleschilder, mit denen man, behördlicherseits, schützenswertes europäisches Kulturgut zu kennzeichnen pflegt.

Ein paar Schritte hinter Kirche und Friedhof steht, versteckt unter alten Bäumen, das Pfarrhaus, in dem der Philosoph geboren wurde. Hier verbrachte er die ersten fünfeinhalb Jahre seines Lebens als mehr oder weniger glücklicher Fritz. An deutschen Protestantismus erinnert heute auf den ersten Blick nichts mehr, eher sieht es nach linksalternativer Nischenidylle aus, der weder deutscher Sozialismus noch deutscher Kapitalismus geschadet haben. Neben der Treppe zum Hauseingang ein Tischchen voller Topfpflanzen. Man scheint bereits geschlossen zu haben, kein Mensch ist zu sehen, doch plötzlich taucht ein Mittdreißiger mit dunklem Vollbart auf und fragt freundlich, ob wir jemanden suchen. Über unseren Wunsch, das Museum zu besichtigen, lacht er herzlich und erklärt: „Ein Museum gibt es hier nicht. Das Gebäude dort drüben wird gerade hergerichtet, da drin soll so was in der Art enstehen. Das Haus hier war und ist Pfarrhaus ... und ich bin derjenige, der heute drinsitzt.“ Darauf reicht er uns die Hand und stellt sich vor: „Kant heiße ich, Jürgen Kant ... also ich verkörpere so was wie den 13. Nachfolger von Nietzsches Vater auf dieser Pfarrstelle.“ (Merkwürdig, dieser Typus ist einem sehr vertraut vom ganzen Habitus her, anscheinend sind sich DDR-Christen und Achtundsechziger zum Verwechseln ähnlich gewesen.)

G: Das ist doch sicher ein eigenartiges Gefühl für Sie, hier ...

K: Nun, ich weiß nicht, vielleicht ... ein bißchen.

G: Haben Sie Kinder?

K: Ja, drei, drei Töchter [lacht], aber keine heißt Elisabeth.

G: Solange kein Sohn kommt, kann ja nichts passieren ... na und was ist hier geschehen seit der Wende, wallfahrtsmäßig?

K: Eigentlich gar nicht so viel, am Anfang kamen ein paar entfesselte Fanatiker, an der Grenze so zum ... ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, die wollten auf dem goldenen Tablett getragen werden ... [eine ältere Bürgerin geht vorbei, beiderseits distanziertes Grüßen] aber in letzter Zeit kommen eigentlich kaum Besucher. Mal ein paar Bildungsreisende, die einiges bereits gelesen haben, oder auch Leute, die zufällig das Schild an der Straße gesehen haben ...

G: So wie wir. Wir sind nur Journalistinnen aus Berlin.

K: Aha! Ab und zu kommen auch noch ein paar Philosophieprofessoren ... Man könnte sich schon wundern, wenn man bedenkt, was das um 1900 und danach vor allem für ein Kultort war, was für Pilgerströme Jahr für Jahr hier ans Grab kamen.

G: Wünschen Sie sich Pilgerströme?

K:[lacht] Nein, wirklich nicht.

G: Seit wann sind Sie hier?

K: Wir sind erst 1989 gekommen, der Rat des Kreises hatte sich gegen das Nietzsche-Engagement meines Vorgängers gewandt und bei der Kirche die Versetzung durchgedrückt.

G: Nach Engagement sieht es hier aber nicht aus ...

K:[lacht schallend] Eine Ente für Sie! Nee, das war hier im Grunde ein verschwiegener Ort. Mein Vorgänger wurde höchstens mal von den Kindern gefragt nach diesem Nietzsche und dann wurde kurz und knapp was dazu gesagt. In der DDR war das kein Thema, darüber durfte nicht geredet werden in der Schule. Man hat nicht mal gesagt, daß der einer der Lieblingsphilosophen der Faschisten war, nichts, man hat ihn einfach totgeschwiegen. Für die alten Leute hier am Ort ist das ja noch mal ein spezielles Wechselbad der Gefühle. Da können sich ja einige noch gut erinnern an den 100. Geburtstag 1944, der wurde hier ja rauschend gefeiert mit riesigen Kränzen von Hitler und Göring beispielsweise, und dann: Aus, Schweigen, nichts mehr. Dann, nach der Wende, kamen anfangs andauernd die Kamerateams, die hier herumgefilmt haben, auch im Ort, wer soll sich da noch auskennen. Und unter den Professoren gab's ja vorher auch schon Kontroversen, in ,Sinn und Form‘ damals...

G: Der Text von Harich ...

K: Der war ja ganz schön hart ...

G: Und Sie, als Mann der Kirche, wie denken Sie darüber?

K: Nicht so hart, nein ... es gibt ja Gemeinsamkeiten ... die Suche nach Wahrheit beispielsweise ...

G: Und einen Bart ...

K: Das nun nicht! Er hatte ja mehr soo einen ...

G: Den Bart an sich!

K: Ist vielleicht was dran ... man versteckt sein Gesicht ... jedenfalls gefällt mir natürlich auch seine Sprache. Und wenn man bedenkt, welchen Platz er in der Theologiegeschichte einnimmt, dann wäre ja das schon ein ganz wichtiger Grund zur geistigen Auseinandersetzung, er hat die Theologen ja herausgefordert ... insofern seh ich es ein Stück weit positiv ... natürlich habe ich auch meine Bedenken...

G: Als Vertreter der Sklavenmoral ...

K: Da wird's natürlich schwierig für mich, das ist klar.

G: Dennoch sorgen Sie für ein Gedenkkabinett dort drüben in dem ... das war doch mal ein Stall, oder?

K: Ja, kann sein ... der Stall von Bethlehem, das ist es! Wenn Sie wüßten, wie das hier ausgesehen hat! Diese beiden alten Nebengebäude sind gerettet worden durch Nietzsche, muß man sagen.

G: Und wer bezahlt? Doch nicht die Kirche?!

K: Nein, das trägt die Kommune ... dafür beispielsweise haben die Bürger, die nach der Wende allerhand Enttäuschungen erlebt haben, natürlich auch Arbeitslosigkeit, begreiflicherweise wenig Verständnis. Aber es geht ihnen ja nichts verloren, im Gegenteil, der Ort wird attraktiver. Das Pfarrhaus wird auch nach und nach ... Das Dach ist ja schon fast neu, diese Fenster beispielsweise dort hat man auch schon rekonstruiert nach dem Vorbild der alten Originalfenster. Gut, der Putz rieselt und müßte erneuert werden ... unter dem Putz ist ja Fachwerk, aber damals, 1825, als das Haus gebaut wurde, hat man bereits das Fachwerk schon verputzt. Der kleine Vorbau über der Treppe ist allerdings nachträglich gemacht worden, um 1900. Seit 1991 stehen wir unter Denkmalschutz, mitsamt der Haustür, die hat der Vater Nietzsche 1843 kaputt gemacht, das ist bis heute nicht richtig repariert.

G: Wieder eine Ente?

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K: Nein, nein, das ist die Wahrheit. Drüben im Stall wird ja bald alles dokumentiert, da werden dann ein paar Bildwände aufgestellt mit ein paar Fotos und der Taufpredigt im Faksimile. Vom Vater gibt's ganz viele Sachen, die sind noch nicht veröffentlicht, für Interessierte eine Fundgrube. Sieben Jahre war Carl Ludwig Nietzsche hier Pfarrer, in diesem Haus fiel er die Treppe runter, lag ein Jahr krank und starb 1849. Und als nächstes wurde dann beerdigt der kleine Bruder von Friedrich, also das dritte Kind, der Joseph, der hatte mit knapp zwei Jahren beim Zahnen so eine Entzündung gekriegt, ganz schlimm. Ein furchtbarer Tod im vorigen Jahrhundert! [die Gattin von Herrn Kant kommt die Treppe herunter, grüßt ein wenig unverbindlich und scheint von unserem Anblick nicht gerade erfreut]

Frau K: Du, vergiß nicht, wir haben es etwas eilig. Du mußt noch mit rüber kommen und um halb acht haben wir Chor!

K: Ich vergesse es nicht ... nur diese Geschichte noch, ja? [er erzählt schnell weiter] Jedenfalls, das Kind hatte also diese Entzündung, bei der ist ja folgendes besonders merkwürdig: das Fieber steigt und steigt, und in dem Moment, wo das Kind gestorben ist, sind alle Zähne durch ... Sie schaun schon wieder so ungläubig, ich war auch skeptisch, hab mir das aber mal ganz genau erzählen lassen von einem Mediziner, das gibt's, so was. Ja und zu all diesen Schlägen kam dann auch noch, daß man hier dem Nachfolger Platz machen und ausziehen mußte ... da war die Witwe grade mal Anfang zwanzig ... später hat sie ja dann den geistig umnachteten Friedrich acht Jahre lang gepflegt in Naumburg, 1897 ist sie dann gestorben ... 95 war ja die Schwester schon zurückgekommen aus Südamerika – dort war sie ja mit diesem Faschisten Förster verheiratet, der dort eine Kolonie, Neu-Germania oder so was, das reine Deutschland, gründen wollte – ja und die hat dann hier alles in die Hand genommen, hat diese Protzvilla in Weimar gekauft, namens Haus Silberblick, da ist sie mit Friedrich hingezogen. 1900 ist er dann gestorben. Sie hat ja bis 1935 gelebt und im Haus Silberblick ihre faschistischen Kaffeekränzchen gegeben ... [erzählend und zuhörend sind wir auf dem Friedhof angekommen] Zum Grab will ich noch schnell sagen: also er kam hier links neben die Mutter, lag also in der Mitte. Elisabeth hatte aber vor ihrem Tod angeordnet, daß er an die Seite kommt und sie in die Mitte ... Es gibt ja da die wildesten Theorien: z.B. die beiden hatten ein inzestuöses Verhältnis, sozusagen bis ins Grab hinein, so daß sie jetzt ja sogar auf ihm liegt.

G: Oder sie liegen nebeneinander ... bitte helfen Sie mir, wo bitte geht immer der Herr neben der Dame?

K: Na ... er liegt so [dreht sich mit dem Rücken zum Grab] dann hat er ihr aber sein Herz ... das ist ja falsch, die Dame muß dem Herrn immer das Herz zukehren ... die Dame?

G: Ich weiß es auch nicht, der Herr geht da, wo es schmutzt ... [Frau Kant kommt, um den trödelnden Gatten zu mahnen]

K: Doch, doch, die Dame geht immer rechts neben dem Herrn und kehrt ihm ihr Herz zu, ist es nicht so?

Frau K:[erst ein wenig unwirsch] Also ich sage mir immer, daß der Mann mit dem rechten Arm einfach am besten die Frau umarmen kann, deshalb geht er links, das ist nur zur Bequemlichkeit der Männer ...

K: Man könnte aber auch sagen, daß er auf diese Weise ein christliches Begräbnis nachträglich bekommen sollte, denn ursprünglich wurde er nur unter Zarathustra- Versen beerdigt, der Pfarrer war damals in Geschäften unterwegs.

Frau K: Ich hatte eine ganz unangenehme Auseinandersetzung mit einem Besucher aus dem Westen. Der hat mich richtiggehend zur Rede gestellt, wie das hier aussehe, er sei vor sechs Wochen schon mal da gewesen und da war's angeblich noch schlimmer, überhaupt sehe im Osten alles ganz schlimm aus.

G: Haben Sie die Rosenstöcke eingepflanzt?

Frau K: Ja, da waren schon mal welche, die sind eingegangen. Ich laß mir das ja nicht vorwerfen. Wissen Sie, viele Wessis klagen über die Zustände hier, aber keiner ist mal bereit, mit anzupacken. Sie wissen immer genau, wie es sein soll, aber machen dürfen's dann wir.

K: Der hätte ja den Spaten nehmen können.

Frau K: Der nicht! Die sind gekommen, die Leute, hatten keine Blumen mit, nichts, die haben sie vom Rosenbusch abgepflückt und draufgelegt aufs Grab, diese Gabe, permanent, so ist er dann eingegangen. Ich bin hier ja nicht die Gärtnerin, ich bin Pastorin und stellvertretende Bürgermeisterin, wir haben zusammen sechs Gemeinden zu betreuen, da ist genug zu tun.

K: Bald werden es neun Gemeinden sein.

G: Ich dachte, Sie haben es hier vorwiegend mit Heiden zu tun?

Frau K: Nicht mit Heiden, mit Atheisten und natürlich mit Gleichgültigen, was noch schwerer ist. Wir haben hier 300 Plätze in unserer Kirche. Zehn bis fünfzehn Leute kommen am Sonntag, höchstens!

K: Das wird alles. Es ist zwar schwierig, denn wir haben es leider mit ziemlich zurückgezogenen Leuten zu tun, aber allmählich wird das Eis schon brechen. In etwa einem Monat z.B. haben wir hier eine große Veranstaltung. Es gibt da diese Nietzsche Förder- und Forschungsgemeinschaft e.V. – wie das in Deutschland so ist, man braucht für alles einen Verein – ja und diese Gesellschaft wird den 150. Geburtstag am 15. Oktober hier feierlich begehen, mit Kranzniederlegung, Vorträgen, Museumseröffnung usw. Na, bis dahin ist noch viel Arbeit. [Frau K. zieht den Gatten mit gespielter Strenge mit sich fort, beide winken.]

DIENER'S Schießhalle. In einem der Vierkanthöfe vorn an der Landstraße sind verschiedene kleine Gewerbebetriebe untergekommen. In den ehemals prachtvollen Stallungen werden Autos repariert, wird geschliffen, geschweißt. Zur Schießhalle führt eine Treppe nach oben. In einem schmalen Raum steht ein junger Mann vor einem Stahlschrank und gibt Pistolen, Munition, Schießscheiben und Ohrenschützer für zwei Kunden heraus. Die verschwinden damit nach einigen belehrenden Worten im Nebenraum, bald darauf ertönt ein dumpfes Baff, Baff.

Mann: Nee, ich bin nicht Herr Diener, ich arbeite nur hier, ich kann Ihnen aber auch Auskunft geben. Also erst mal, schießen kann bei uns im Prinzip jeder, das geht los ab 14, mit Erlaubnis der Eltern. Das ist ein schöner Freizeitsport, den sich jeder leisten kann, kostet pro Person 15 Mark, Zeit unbegrenzt, Waffengebühr kommt noch dazu mit 10 Mark, Schießscheiben 'ne Mark pro Stück, dann die Munition, Kleinkaliber, 50-Schuß-Packung für 5 Mark, ja und dann müssen sich Privatleute versichern, das ist für 'ne Mark. Dann kann's schon losgehen. Möchten Sie mal sehen?

Wir treten durch eine schwere Tür in die Schießhalle. Es ist recht dunkel. Mit Punktscheinwerfern angestrahlt ist die Schießscheibe auf der schwarzen Wand und auch der thekenartige Schießstand, der etwas heimwerkerartig gezimmert ist. Die beiden Männer halten ihre Pistolen mit beiden Händen umklammert, zielen und schießen, zielen und schießen. Das Mienenspiel ist unbewegt. Wieder im Büro überreicht mir der junge Mann eine Visitenkarte und zeigt auf die Rückseite:

Seh'n Sie, da hängt ja auch noch das Waffengeschäft in Bad Dürrenberg mit dran. Der Herr Diener hat zu DDR-Zeiten bei Leuna gearbeitet und nach der Wende, als das Waffengeschäft bei uns hier so geboomt hat, wollte er sich eben auch selbständig machen, aber heute gehen die Geschäfte nicht mehr so wie damals. Und hierher kommen sie eben doch eher mal zum Schießen, die Leute aus der Umgebung, ist ja nichts los sonst. Und nebenbei kann jeder bei uns seinen Waffenschein machen, ein halbes Jahr sauber das Schießbuch führen und alles, dann beim Ordnungsamt den Waffenschein beantragen und fertig. Es ist ja heutzutage immer gut, wenn man Herr der Lage ist.

G: Kennen Sie Friedrich Nietzsche?

Mann: Äh, Moment ... Sie meinen den, der hier auf dem alten Friedhof liegt? Das war doch so ein Philosoph aus dem Westen oder was? Am besten, Sie fragen den Pfarrer, der ist da zuständig. Ich weiß nur, habe es auch nur gehört neulich, daß irgendwelche Professoren kommen, deswegen sollte der Saal in der „Linde“ renoviert werden, aber daraus wird wohl nichts, weil kein Geld da ist. Na, wir in Röcken hier haben wirklich andere Sorgen!

*

„Nietzsche und Wagner – Werkstatt in Pforta (Schulpforte/ MZ/hh.) Das Thema ,Nietzsches Beziehung zu Richard Wagner und ihre Bedeutung für sein Denken‘ steht im Mittelpunkt der III. Nietzsche-Werkstatt, die gegenwärtig in Schulpforte stattfindet. Die Veranstaltung steht unter der Leitung von Professor Dr. Jörg Salaquarda aus Wien. Als Grundlage für die Seminare und Beiträge, die während der Werkstattage gehalten werden, dient eine neue zweibändige Dokumentation ,Nietzsche und Wagner – Stationen einer epochalen Begegnung‘, für die der Nietzsche-Forscher Salaquarda als einer der Herausgeber zeichnet. Die Werkstatt hat am Mittwoch begonnen. Sie wurde von Professor Hans-Martin Gerlach, Vorsitzender der Nietzsche-Gesellschaft, und dem Rektor der Landesschule Pforta, Karl Büchsenschütz, eröffnet.

Gestern unternahmen die Nietzsche-Forscher aus dem In- und Ausland eine Exkursion nach Bad Frankenhausen, um sich das Panoramabild über den Deutschen Bauernkrieg anzusehen. Der Abend schloß mit einer Weinprobe im Landesweingut Kloster Pforta. Heute wird Professor Dr. Günther Hartung aus Halle zu ,Die Tradition und Wagner in Nietzsches ‘Geburt und Tragödie‚‘ referieren. Am Abend werden Schüler der Landesschule den Werkstatt- Teilnehmern ein künstlerisches Programm darbieten.

Mit einem zusammenfassenden Bericht von Salaquarda und einer Schlußdiskussion wird die III. Nietzsche-Werkstatt am Sonnabend zu Ende gehen.“ (,Unstrut Bote‘, 9.9.94)

Schulpforte liegt sechs Kilometer westlich von Naumburg, wurde im 12. Jahrhundert als Zisterzienserkloster gegründet, im 16. Jahrhundert (im Zuge der Reformation) enteignet, in eine der ersten staatlichen humanistischen Bildungsanstalten Deutschlands umgewandelt, geriet 1815 unter preußische Kuratel, wurde 1935 zu einer der Napolas (Nazieliteschulen) gemacht, 1945 enteignet und Heimoberschule (zum ersten Mal auch für Mädchen zugänglich). Seit 1990 Sächsische Landesschule Pforta.

Vor dem wehrhaften neugotischen Torgebäude spielen zwei Knaben. In übergroßen Hosen, mit vorschriftsmäßig verkehrt herum aufgesetzten Baseballkappen, kicken sie eine Colabüchse vor sich her und schießen sie mit gut gezielten Fußtritten durch die Tordurchfahrt. Durch dieses düstere Trichterportal gingen 400 Jahre lang die sittsamsten Kanben, u.a. auch Klopstock, Fichte, Ranke. Im Oktober 1858 durchschritt es der fast vierzehnjährige Friedrich Nietzsche (angeblich betend und fest entschlossen, ein tadelloser Zögling und später Pastor zu werden). Was der Alumnus portensis (Inhaber einer Freistelle) als nächstes vor sich sah, sehen wir im Prinzip heute noch so: der Blick richtet sich auf eine im Hintergrund liegende gotische Kirche, drumherum gruppiert sich ein Ensemble von größeren und kleineren Gebäuden, in denen Schule, Postamt, Wohnräume usw. untergebracht sind. Es gibt alte Bäume, stille Winkel, Kopfsteinpflaster, eine alte Mauer ringsum, das alles ist eine Mischung aus viel zu großem Kloster und viel zu kleiner mittelalterlicher Stadt, irgendwie unsympathisch.

Wir begeben uns auf die Suche nach den Nietzsche-Forschern, irren durch schwach beleuchtete Flure und Treppenhäuser, durchqueren einen Kreuzgang und finden ein Stockwerk höher endlich den Tagungsraum. Ich trete kurz ein, aber das Parkett knarrt derart, daß alle Köpfe sich zu mir umdrehen und ich mich lieber wieder zurückziehe. Vor der Tür sind die überzähligen Tische übereinandergestapelt. An der Unterseite kleben, außer dem VEB-Herstel

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lerschild, zahlreiche weiße getrocknete Kaugummis. Es findet sich auch ein Faltblatt der Nietzsche Förder- und Forschungsgemeinschaft, 1990 gegründet, mit Sitz in Halle. Hauptaufgabe ist, „das Werk des Philosophen Friedrich Nietzsche in seiner Heimat wieder präsent zu machen“, und dann heißt es noch im Nachwendejargon: „Das Nietzsche-Jahr 1994 wird der Gemeinschaft Anlässe geben, das Geleistete zu werten und Felder künftiger Arbeit zu erkunden.“

Die Tür öffnet sich, heraus kommen die Seminarteilnehmer, Damen und Herren, meist mittleren Alters. Die Seminarleitung zeigt sich vom Besuch der Presse angetan und wir beschließen, bei einem gemeinsamen Essen im Turmrestaurant, gleich vorn im Eingangsportal, ein bißchen zu plaudern.

Vorn ist in einer Extrastube für die Nietzscheaner bereits gedeckt. Unter ihrem Protest („Wir hatten doch beschlossen, gemeinsam zu essen!“) werden im Gastzimmer zwei Tische zusammengerückt („Wegen Pressepräsenz, das war nicht vorauszusehen“), an denen die leitenden Herren und ihre Gattinnen Platz nehmen. Mir überläßt man den Stuhl an der Stirnseite, flankiert von Professor Salaquarda aus Wien, der sowohl eine lange Haarsträhne am ansonsten kurz geschnittenen rechten Hinterhaupt trägt als auch einen Lehrauftrag am theologischen Seminar der Uni Wien hat, und Professor Schmidt von der Uni Dortmund, der graumeliert und wohlgestalt ist.

Der Österreicher erzählt, er sei schon zu DDR-Zeiten in Röcken gewesen, kannte da einen Theologen aus der Bohley-Sippe, der wiederum war befreundet mit dem ehemaligen Pfarrer in Röcken. Dem jetzigen Pfarrer, dem Kant, sei mit der Presse schon Unangenehmes passiert, er wurde von ,BILD-Leipzig‘ aufgefordert, am Grab Nietzsches ein Blumengebinde, das die Reporter niedergelegt hatten, irgendwie anders anzuordnen. Und als er's dann in der Hand hielt, wurde das fotografiert und erschien in ,BILD‘ mit der Unterschrift: „Pfarrer legt Blumen aufs Grab von Antichrist“ oder so ähnlich. So einer sei das gar nicht, bemerkt Professor Schmidt, im Gegenteil, er sei, trotz mancher Einwände, fasziniert von Nietzsche und habe viel gelesen (was wir ja nur bestätigen können). Der Gegenstand dieser Werkstatt, „Nietzsche contra Wagner“, scheint erschöpfend behandelt worden zu sein. Eine der Hauptaussagen ist, „daß die Ablehnung Wagners durch Nietzsche nicht so sehr als ,Bruch‘ interpretiert werden darf, sondern vielmehr als Ergebnis einer konsequenten Entwicklung. Seine Beziehung war ja lange vor dem sog. Bruch schon sehr distanziert, da war der Antisemitismus Wagners beispielwiese, der ihn störte. Wir haben versucht, diesen Bruch jenseits vom Persönlichen zu beschreiben, zu zeigen, daß sich die Beziehung dieser beiden nicht auf ihre komplizierten Charaktere reduzieren läßt, sondern daß es inhaltliche Gründe für ihn gibt, beispielswiese auch grundverschiedene Ansätze in Philosophie und Weltanschauung.“ Die Gespräche gehen hin und her, die beiden Platzhirsche neigen zum Dozieren, der Kellner bringt das Essen, Frau Schmidt klagt über die Suppe, die sie im Wohnmobil unten besser und billiger gekocht hätte, wie sie sagt. Ich esse aus gegebenem Anlaß Hirsch mit Klößen.

Professor Salaquarda (das vergaß ich zu erwähnen, weil es nach kurzer Zeit gar nicht mehr auffällt) hat seltsam verkrüppelte Hände. Er ließ sich einen überbackenen Camembert kommen und ißt ihn sehr zierlich und langsam mit Messer und Gabel. Dann sagt er einen Satz, den wir im ersten Augenblick für unsterblich halten: „Da Sie von der taz sind und weiblichen Geschlechts, würde ich das Thema empfehlen: Nietzsche und die Frauen.“ Dann fügt er hinzu: „Der Chauvinismusvorwurf läßt sich ja ganz leicht auflösen, schaun Sie, Nietzsche ist der erste gewesen im Abendland, der die Existenz eines ,Wesens‘ bestritten hat, insofern gibt's natürlich auch kein weibliches Wesen etc.“ Er verweist auf eine umfangreiche Neuerscheinung in Amerika zum Thema, darin werde aus „einem feministischen Ansatz heraus“ argumentiert.

Für kurze Zeit kommt die Tischrunde auf das Thema der rollkommandoartigen Übernahme von ostdeutschen Lehrstühlen durch drittklassige West-Akademiker. Wir nähern uns gefährlich dem Lieblingsgesprächsstoff deutscher Professoren, dem Uniklatsch. Der gemeinsame Feind heißt Manfred Riedel, Professor aus Erlangen (von dem ich am Vortage gerade einen, zugegebenermaßen sehr langweiligen, Aufsatz in den ,Ettersberger Heften‘ gelesen habe: „Der Anfang Europas – Nietzsche und die Griechen“) und lehrt nun an der Halleschen Universität. Professor Schmidt deutet an, daß der Herr Ambitionen hatte, in der Fördergemeinschaft eine herausragende Rolle zu spielen, da ihm das aber nicht vergönnt war, gebe er keine Ruhe und versuche nun die Arbeit kaputtzumachen. Dann aber leitet Herr Schmidt geschickt über zur eigenen Arbeit, erzählt von seinen Röckener Recherchen, dem Leben der Familie, der „autotherapeutischen Begabung“ des Knaben, die in den Kindheits- und Jugendtexten deutlich zu erkennen sei. Er spricht lange und gern.

Und er schreibt lange und gern. Ich habe im nachhinein gelesen. Unter dem Titel „Nietzsche Absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche“ erschien (im IBDK- Verlag) ein vierbändiges Werk, 3.000 Seiten lang, 4.000 Gramm schwer. Mit wirklichem Bienenfleiß wurde Nietzsches Kindheit und Jugend rekonstruiert. Wer sich nicht abschrecken läßt durch pfundweise Vorworte, Einleitungen, Orientierungshilfen, waschzettelartige Informationstexte für alle nur erdenklichen Leserkreise, von Wiederholungen, ausufernden Fußnoten, psychoanalysierenden Deutungen in erschöpfender Breite, wird nicht nur eine Menge Details über den frühen und sehr frühen Nietzsche kennenlernen, sondern auch den Autor selbst. Wohl kaum jemand ist in der Lage, das Kind Nietzsche besser zu verstehen und zu würdigen als er. Noch in der unschuldigsten Verszeile erkennt er Begabung und heimliches Aufbegehren. Wie nur Männer es können, fühlt er sich hinein in den sensiblen Knaben, bis hin zum traumatischen Erleben im zu engen Geburtskanal der erstgebärenden Mutter.

Um 20 Uhr nach dem Essen soll im Schulgebäude noch eine von Nietzsche komponierte Musik erklingen. Wir haben schon Platz genommen, flüchten dann aber plötzlich panikartig.

P.s.: Die ,Welt am Sonntag‘ brachte am 16.10.1994 unter der Überschrift „Skandal bei Kranzniederlegung am Grab des Philosophen“ die Meldung, daß am 15.9. in Röcken von einem früheren „SED-Philosophen und Nietzsche- Kritiker“ ein Kranz niedergelegt worden sei, in Anwesenheit des Ministerpräsidenten Höppner von Sachsen-Anhalt und trotz des Protests „zahlreicher prominenter Nietzsche-Forscher“. Er habe sich sogar, mit Harich zusammen, ehemals für die Einebnung der Grabstätte ausgesprochen. „1974 warnte Gerlach vor Nietzsches ,subjektivistisch aufgeblähter Kulturkritik‘ und stellte einen Zusammenhang her zwischen ,bornierter Blut-und-Boden-Ideologie des Nazismus‘ und der Philosophie des Übermenschen. Nach der Wende wandelte sich der Nietzsche-Feind Gerlach überraschend in einen Nietzsche-Bewunderer. 1990 gründete der inzwischen zum Professor an der Universität Mainz Berufene eine ,Interessengemeinschaft Nietzsche e.V.‘, die mit Fördergeldern unterstützt wird.“ Kommentar des Vereinssekretärs: „Wir kennen den Herrn, der dahintersteckt, sehr genau, das ist von konservativer Seite lanciert, ein Schlag zugleich gegen die rot-grüne Koalition in Sachsen, der Höppner war ja da, das sind Leute, die uns kaputt machen wollen und keine Mittel scheuen!“

„Ich lieche untern Bette

Zerbrochen ist die Kette“

(F. Nietzsche, 10 Jahre alt)