„Werter Genosse Honecker...“

Auf 330 Regalmetern lagern im Schloß Coswig die Eingaben von DDR-BürgerInnen an „ihren“ Staatschef / Per Bittbrief ließen sich selbst seltene Ersatzteile schnell beschaffen  ■ Von Eberhard Löblich

Coswig (taz) – Wenn die Warterei auf eine eigene Wohnung gar zu lange dauerte, die Heizung trotz mehrfacher Anfrage auch bei Minusgraden immer noch nicht repariert wurde und auf dem Auto-Ersatzteilmarkt mal wieder gar nichts ging, dann blieb DDR-BürgerInnen früher nur eins: eine Eingabe an den „werten Genossen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker“. Ein Schreiben, das oftmals Wunder bewirkte und das Gewünschte sehr viel schneller herbeischaffte, als es die real existierende sozialistische Planwirtschaft je vermocht hätte. Auf 330 laufenden Regalmetern lagern heute im Schloß von Coswig Hunderttausende dieser Eingaben. Und auch wenn Genosse Honecker sie nie zu Gesicht bekam, hatten DDR-Bürger mit ihren Schreiben nicht selten verblüffenden Erfolg.

So beklagte sich Gerhard W. aus Radebeul 1970 darüber, daß der Inhalt der nachbarlichen Fäkaliengrube seit Jahren beständig in seinen Keller sickere. „Die Kohlen aus dem Keller sind stets fäkaliendurchtränkt, wenn ich sie im Wohnzimmer in den Ofen schiebe“, schimpfte W. und setzte damit das Laufwerk der Bürokratie in Gang. Die zuständige Abteilung des Staatsrates übersandte seine Beschwerde prompt dem Bürgermeister von Radebeul – nicht nur mit der Aufforderung, das Ganze zügig zu bearbeiten, sondern auch „mit der Bitte um Berichterstattung“. Radebeuls Bürgermeister, so ist in den Akten nachzulesen, meldete schon bald Vollzug: Das Keller-Fäkalienproblem war auf höchster Ebene gelöst.

Vom ursprünglichen Schloß Coswig steht nur noch die äußere Hülle. Die anhaltinische Fürstin Sophia Auguste ließ es 1650 als Witwensitz errichten. 1870 wurde das Schloß komplett zum Knast umgebaut. 1956 kamen die Knackis raus und die Akten rein. Die Abteilung „Eingaben des Staatsrates“ führte akribisch Buch über alle Bittbriefe. Selbst die Beschaffung von Ersatzteilen ließ sich nicht selten auf diesem Wege regeln.

Christian L. wurden beispielsweise bei einem Auffahrunfall „Heckteil, Kofferklappe, hinterer rechter Radlauf und Kotflügel derart beschädigt, daß ich gezwungen war, sie mir im Handel zu besorgen“. Das klappte aber nur zum Teil, denn ein Trabi-Heckteil war damals für den DDR-Normalverbraucher nicht aufzutreiben. „Auch meine Versuche, den Wagen in einer Fachwerkstatt in Potsdam reparieren zu lassen, waren erfolglos, da mir Wartezeiten zwischen zwei und drei Jahren angeboten wurden.“ Christian L. verzichtete auf Lobeshymnen auf Staat und System und klagte: „Diese lange Wartezeit ist für mich indiskutabel.“ Auch Christian L. setzte mit seiner Eingabe die Mühlen der sozialistischen Wirtschaftsbürokratie in Gang. „Nach längeren Bemühungen ist es uns gelungen, ein Trabant-Heckmittelteil gesondert zu beschaffen“, meldete der Rat des Bezirks stolz nach Berlin. „Kollege L. Konnte es am 10.6. 1988 erfreut entgegennehmen.“

Nicht jeder hatte soviel Glück. In vielen Eingaben bitten DDR-BürgerInnen ihren Staatsratsvorsitzenden, sie bei ihrem Übersiedlungsersuchen nach Westdeutschland zu unterstützen, erzählt Karin Weßling, Archivleiterin in Coswig. „Diese Vorgänge wurden zwar bearbeitet wie alle anderen auch, aber die originalen Eingaben fehlen in den Akten.“ Die dürften damals direkt an die Stasi gegangen sein, glaubt Weßling. Wenig Erfolg hatten auch zwei Eingaben an den „sehr geehrten Herrn Staatsrat“ von Hildegard N. aus Spremberg. Sie beschwerte sich darin über verloren gegangene Pakete aus dem Westen. Auch nach der zweiten Eingabe konnte die verlorene Post nicht herbeigeschafft werden. Sie dürfte ebenfalls bei der Stasi gelandet sein.

Jeder ehemaligen DDR-Bürgerin (und jedem Bürger) steht das Archiv in Coswig, das mittlerweile eine Außenstelle des Bundesarchivs ist, heute offen. In den Akten kann sie nachlesen, welche Behörden-Maschinerie sie mit ihrer Eingabe in Gang setzte. Einige Briefschreiber suchten allerdings auch schon vergeblich. Denn manch ein Eingabeschreiber galt auch den sonst so fürsorglichen Mitarbeitern des Staatsrates als renitent. „Es dauerte eine ganze Weile“, sagt Roswitha Schröder, „bis wir herausfanden, daß sogenannte Vielschreiber gesondert archiviert wurden.“