Schriftsteller sind langsam

Beim dritten israelisch-deutschen Schriftstellertreffen, erstmals in Jerusalem, ging es um die fragile Sehnsucht nach Normalisierung, die Macht des Holocaust und Verunsicherungen der israelisch-jüdischen Identität  ■ Von Jörg Plath

Tränen gab es und erschütternde Lebensgeschichten, aber auch fröhliches Lachen und Wärme. Aber kein Kommuniqué, kein Zwischen- oder Endergebnis, nicht einmal ein Gruppenbild, auf dem alle 20 Teilnehmer des israelisch-deutschen Schriftstellertreffens, erstmals in Jerusalem, zu sehen sind. Öffentlich waren zudem nur zwei gut besuchte Lesungen in Tel Aviv und Jerusalem sowie die einleitenden Vorträge von Abraham B. Jehoschua und Hans Magnus Enzensberger. Was sie denn nun schreiben solle, fragte eine ratlose deutsche Israel-Korrespondentin, als das einwöchige Treffen am letzten Sonnabend zu Ende ging. So schwer ist die Frage nicht zu beantworten. Ein Blick auf die deutsch-jüdische Geschichte ist fast die ganze Geschichte, und das nicht unbeträchtliche Verdienst des Treffens besteht im einschränkenden „fast“.

Von diesem „fast“ wäre also zu erzählen: von der fragilen Sehnsucht auf beiden Seiten nach Normalisierung ohne Vergessen und von der Macht des Holocaust, außerdem von den Energien, die der Friedensprozeß freisetzt, und von den Verunsicherungen der jüdisch-israelischen Identität, die er zugleich mit sich bringt.

Abraham B. Jehoschua eröffnete das Schriftstellertreffen mit einem Ausblick auf die Veränderungen Israels im „post-peace“. Mit Verve skizzierte die moralische Autorität des Landes, daß Israel seine Besonderheit als westlicher Vorposten verliere und zu einem levantinischen Staat werde. Deshalb müßten sich sowohl die jüdische Identität wie auch das Verhältnis zu den Diaspora-Juden ändern, und innenpolitisch solle die Linke einen neuen „Bund“ mit den Nationalreligiösen schließen. Eine Mischung aus nüchterner Bestandsaufnahme und visionärer Kibbuz-Mentalität, gespickt mit Arbeitsanweisungen für die israelischen Intellektuellen.

Seine Landsleute (unter ihnen Rachel Chalfi, Gabriel Moked, Dan Tsalka, Asher Reich, David Shahar und David Schütz) lauschten Jehoschuas Ausführungen mit einiger Skepsis, denen Hans Magnus Enzensberger am Tag darauf mit einem Vortrag über die gegenwärtige Lage in Deutschland antwortete. Doch sobald die Veranstalter und Journalisten nach den Vorträgen den Raum verlassen hatten, gingen die Schriftsteller zu Persönlichem über.

So entdeckten F.C. Delius und Ruth Almog, daß sie sich in hessischen Nachbardörfern hätten kennenlernen können – wenn Almogs Eltern nicht zur Emigration nach Palästina gezwungen gewesen wären. Guntram Vesper erzählte, welche Widerstände er zunächst in sich und dann bei den Einwohnern eines deutschen Dorfes überwinden mußte, um die Geschichte eines Steines mit hebräischer Inschrift aufzuklären. „Es kommt oft mehr auf das Detail an, als auf die Totalität des Problems“, resümierte Enzensberger. Umgekehrt stellten sich angesichts der unfaßbaren Totalität des Holocaust aber doch nur wieder die bekannten philosemitischen Beteuerungen ein.

Statt bequemer und folgenloser Selbstbezichtigungen also fragten die SchriftstellerInnen (unter den deutschen unter anderen Ursula Krechel, Helga Schütz und Paulus Böhmer) nach der eigenen Verstrickung, ihren Traumata, Denkverboten und Mentalitäten. Deutsche wie Israelis, so schien es, brauchten einander, um ihre durch den Holocaust auf sehr unterschiedliche Weise beschädigten und zerbrochenen Lebensgeschichten auszuleuchten – die „deutsch-jüdische Symbiose“ nunmehr als Bedürfnis nach Gesprächen.

Gewachsen ist dieses Bedürfnis auf den Treffen 1989 in Freiburg und 1993 in Berlin, die – wie auch das Jerusalemer – von dem Schriftsteller Christoph Meckel und der Künstlerin Efrat Gal-Ed organisiert worden waren. Beide haben die Nichtöffentlichkeit der Gespräche durchgesetzt; eine vertrauensbildende Maßnahme, die offensichtlich so erfolgreich war, daß sie in Jerusalem erstmals umstritten war.

Wie groß damals die Ängste der israelischen Autoren vor einem Besuch in Deutschland waren, kann man sich hierzulande kaum vorstellen. Die 1926 in Warschau geborene Judit Hendel war zuletzt 1950 in Deutschland. Damals standen sie und ihr Ehemann in München einem Hotelportier gegenüber, der nach einem Blick auf den Anmeldezettel sagte, er habe im polnischen Heimatdorf ihres Mannes „gedient“. Die SS hatte die Juden des Dorfes deportiert, Hendels Familie wurde ausgelöscht. Der Überlebende besaß als orthodoxer Jude keine Fotografien von den Toten, aber auf der Postkarte des Dorfes, die der junge blonde Mann hervorholte und ihnen schenkte, erkannte er das Haus seiner Eltern wieder.

Daß sich Deutsche und Israelis trotz dieses historischen Traumas nicht nur höflich, sondern freundschaftlich miteinander unterhielten, muß verwundern. Im Jerusalemer Künstlerhaus Mishkenot sha'ananim war zudem eine deutsch-israelische Sehnsucht nach Normalität und Harmonie spürbar, die die erstmals teilnehmende Nava Semel prompt kritisierte: Anfangs habe es eine – bewußte oder unbewußte – Tendenz gegeben, den Holocaust zugunsten anderer, angenehmerer Themen zu vernachlässigen. Doch diese Wunde schließe sich nicht in 50 Jahren. Wie schon 1993 in Berlin war es dann Judit Hendel, die am zweiten Tag fragte, warum nicht über den Holocaust gesprochen werde.

Die Reaktionen auf diese Frage reichten von Überdruß bis Zustimmung. Am deutlichsten war der Widerstand offenbar bei den Israelis, die in Deutschland Freunde gefunden oder gar Fuß gefaßt haben; ihnen erschien – wohl aus leidvoller Erfahrung – ein Gespräch über den Holocaust als entleertes Ritual. Doch Auskünfte über die Meinungsverschiedenheiten blieben karg, und das mußte wohl so sein. Denn plötzlich merkte jeder, wie zerbrechlich bei aller Vertrautheit und Herzlichkeit der gemeinsame Boden war.

Distanz stellte sich ein, als die palästinensischen Autoren Izzat Ghazzawi und Ahmad M. Harb für einen Tag an dem Schriftstellertreffen teilnahmen. Mit den Israelis Shulamit Hareven und David Grossman gehören sie zu einer von dem palästinensischen Arzt Muhammed Abu-Zaid initiierten Autorengruppe, die sich seit 1992 trifft. „Es begann wie eine Liebesgeschichte“, erinnerte sich Savion Liebrecht ein wenig romantisch. „Ein israelisches Gesetz verbot uns den Kontakt mit Palästinensern. Sie wiederum konnten nicht nach Jerusalem kommen und wurden in Diplomatenwagen über die Grenze geschmuggelt. Dann trafen wir uns in Botschaften.“ Inzwischen trifft sich die Gruppe alle zwei Monate.

Im Beisein der Deutschen erzählten Israelis und Palästinenser von den Toten und den Verletzten des Konflikts, die es in nahezu jeder Familie gibt; die Israelis eher schuldbewußt, die Palästinenser eher anklagend. Die Geschichte ihres Kampfes, von der jüdischen Einwanderung bis zur palästinensischen Drohung, Israel auszuradieren, sparten sie aus. Was den Deutschen unaufrichtig erschien – „eine Komödie“, schimpfte Hans Joachim Schädlich, und Christoph Meckel fühlte sich an die philosemitische Haltung der Deutschen in den 60er Jahren erinnert –, war jedoch eine unerläßliche Voraussetzung der Zusammenkunft: Zu nah geht allen Beteiligten der Konflikt.

Ihr Gespräch beurteilten sie denn auch, anders als die Deutschen, durchweg positiv. Seine Hoffnung auf den Frieden sei in dieser aufwühlenden Begegnung gestärkt worden, meinte Chaim Be'er.

Sicher wird der Friedensprozeß die israelische Identität und ihr zentrales Moment, den Holocaust, nicht unverändert lassen. Muhammed Abu-Zaid etwa wünschte sich die Anwesenheit der Deutschen, damit sich die Israelis gegenüber den Palästinensern nicht weiter hinter der Shoah „verstecken“ könnten.

Einen Schritt weiter ging ein von Nava Semel heftig kritisierter deutscher Autor mit der Auffassung, im Verhältnis zu den Palästinensern seien die einstigen Opfer zu Tätern geworden. Praktischerweise entlastet der suggestive Rollentausch von den eigenen Schuldgefühlen. Welche Bedeutung hat der Holocaust für das deutsche Selbstverständnis?

Wahrscheinlich sei das immer wiederkehrende Gespräch über die Shoah eine Reinigung für die Deutschen, meinte Ruth Almog. Eine „purification“, kein Purgatorium. Die Wunde heilt nicht, aber sie verändert sich. „Schriftsteller sind langsam“, meinte Libuše Moníková besonnen.

Im Mai 1995 trifft man sich in Köln wieder, in leicht veränderter Besetzung, um Kontinuität ohne Exklusivität zu gewährleisten. Manchmal sind Schriftsteller gar nicht so langsam.