Raubzug der Fischköppe im Watt

■ In Nordfriesland tobt die Schlammschlacht um Gräber und Gelehrte : Der Bremer Ehnologe Hans Peter Duerr fand Überreste einer Stadt. Ist es Rungholt, das sagenumwobene friesische Atlantis? von Dora Hartmann

Für 7600 FriesInnen ging am 16. Januar 1362 die Welt unter. Sie wurden erschlagen von den Wellen der wütenden Nordsee. Habe, Vieh und Menschen ersoffen in den vernichtenden Fluten. Sieben Ortschaften der Edomsharde – einst ein torfiges Marschland zwischen Pellworm und Nordstrand – versanken im Schlamm der “Groten Mandränke“. Verschluckt wurde auch das blühende Rungholt, einst Handelsmetropole für Flandern und das maurische Spanien.

„Trutz, Blanke Hans“ würden zehn Generationen später tausende von GymnasiastInnen das dramatische Ereignis in Versform gebracht auswendiglernen: „Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren...“ Niemand ahnte zu dieser Zeit, wie prophetisch die nächsten Zeilen Detlev von Liliencrons gedichtet waren: „Noch schlagen die Wellen da wild und empört, wie damals, als sie die Marschen zerstört.“ Doch im November des Jahres 1994 ist es ein einzelner Mann, dem sie entgegenschlagen: Inmitten der schleswig-holsteinisch entfachten Küstenbrandung steht achselzuckend der Bremer Ethnologe und Kulturhistoriker Hans Peter Duerr. Unwillentlich rutschte er in eine der Hauptrollen im bundesweit Aufsehen erregenden Strandguttheater, das aus Krimi, Provinzposse und archäologischer Sensation gewirkt zu sein scheint.

Als der durch viele Buchveröffentlichungen bekanntgewordene Heidelberger Wissenschaftler vor zwei Jahren dem Ruf der Bremer Uni auf eine Professur für Ethnologie und Kulturgeschichte folgte, hatte er wie die meisten seiner ZeitgenossInnen das sextanisch erlernte Gedicht um die versunkene Stadt vergessen. Es trat erst wieder aus hervor, als Duerr zwecks Annäherung an die norddeutsche Kultur einen Urlaub auf Nordstrand verbrachte. Die Wand seines dortigen Domizils schmückte das Faksimile einer alten Landkarte, der „Abriss Uon Rvngeholte Und Seinen Kirchspielen Anno 1240“. Dergleichen mag hunderte touristischer VormieterInnen kalt gelassen haben, bei Duerr entfachte die Karte loderndes Interesse. Die Ferien wuchsen zum Forschungsprojekt aus, er sammelte Karten und Schriften, durchstöberte die Archive. Ergebnis: Die Wissenschaft, die das sagenumwobene versunkene Atlantis der Friesen bislang südwestlich der Hallig Südfall verortete, mußte sich täuschen. Rungholt lag vielmehr nördlich.

Sein Vermieter, der Bauer Dethleffsen, hatte das schon immer gewußt. Er hatte lange Jahre als Pächter von Südfall auf der Hallig gelebt und war genau dort, wo Duerr Rungholt vermutete, zwischen 1955 und 1975 auf achtzig bis neunzig Brunnen gestoßen. Außerdem hatte er Totenschädel, Schildbuckel, Schmuck, Töpfe und maurische Keramik im dortigen Watt gefunden, die nachweislich aus jener Zeit des Untergangs stammt. Den Behörden hatte er davon nichts gemeldet, schließlich lag Rungholt offiziell woanders. Beweis: Das nahe Husumer Nissenhaus feiert den südwestlich gefundenen Balken eines Schleusentores als touristisch attraktives Überbleibsel von Rungholt. Trutz blanke Hans, wat geit dat mich an, fragte sich der Bauer, doch Duerr forschte weiter.

Der 1921 vom Nordstrander Heimatforscher Andreas Busch gefundene Balken war allgemein als „Kernstück der Rungholtforschung“ hochgehalten worden. Seine wissenschaftliche Altersbestimmung war 1981 in Fachblättern angekündigt worden, doch danach, entdeckte der Bremer Ethnologe, herrschte Schweigen im Balkenwald. Duerr bat mehrfach den damaligen Leiter des Museums, Professor Wohlenberg, um das Ergebnis der Analyse. Vergeblich.

Gerda Giese, eine Mitarbeiterin Duerrs, erfuhr schließlich, daß die dendochronologische Analyse in Reinbek erstellt, allerdings ergebnislos verlaufen war. Der Institutsleiter Professor Eckstein erinnerte, daß die Holzprobe anschließend der Kölner Uni übergeben worden war, um dort nach der C-14-Methode behandelt zu werden. Das Resultat jedoch, teilte man Duerr mit, ist verschollen. Nicht einmal Kopien der Analyseergebnisse sind aufzufinden, bestätigte die Uni Köln gegenüber der taz. Es ließe sich vielleicht etwas im Nachlaß des 1993 verstorbenen Wohlenberg finden, doch die Erben versagen den Zutritt. Genau erinnern will sich indes ein ehemaliger Mitarbeiter Wohlenbergs an das Ergebnis aus Köln, das der bisherigen Rungholtforschung samt Tourismusspektakel eine schallende Ohrfeige versetzte: Der Balken, versicherte er Gerda Giese, stamme aus dem Jahr 1700 (plus/minus 20 Jahre).

Hatte Wohlenberg das vernichtende Ergebnis verschwiegen, um eines seiner wichtigsten Ausstellungsstücke zu retten? Schon einmal war er in anderem Zusammenhang in den Verdacht geraten, wissentlich falsche Datierungen vorgenommen zu haben. Das Mißtrauen Duerrs wuchs, zumal er inzwierfahren hatte, daß ein ortsfremder und damit womöglich objektiver Experte einige während der Vorkriegszeit gefundene Keramikproben aus einem „Rungholt“-Brunnen auf 1420-1680 datiert hatte. Duerr versuchte nun seinerseits, 20 Gramm des ersehnten Balkens oder Keramikproben zu erheischen. Auch dies schlug fehl, das Museum versagt ihm bis heute die Bitte. „Unter Strapazierung sämtlicher Scham- und Peinlichkeitsschranken“, so Duerr, bemühte Gerda Giese immer wieder das Telefon, um stets aufs Neue abgewiesen zu werden. Was geschah dort oben im Norden, Trutz, Blanke Hans? Um diese Frage zu klären, beschloß Duerr, selbst vor Ort zu gehen.

Ordnunsggemäß beim Landesamt für Vor- und Frühgeschichte angemeldet und von diesem noch mit guten Ratschlägen bedacht, startete Duerr mit StudentInnen und wissenschaftlichen MitarbeiterInnen im vergangenen Juni ins nördlich von Südfall gelegene Watt. Man mietete ein Flachboot und ließ sich genau dort trockenfallen, wo zuvor von einem Flugzeug aus „merkwürdige scharze Punkte“ im feuchten Sand entdeckt und fotografiert worden waren. Die Brunnen vielleicht, oder Pfähle von Häusern? Es handelte sich um bloße Steine, wiewohl offensichtlich behauen. Das mußte nichts bedeuten. Plötzlich aber fand man Keramikfragmente. Dann Knochen, Ober- und Unterkiefer, von Pferden offensichtlich. Das Rungholt-Fieber griff um sich und trieb zwei StudentInnen tief in einen Priel. Mehrfache Warnungen vor der steigenden Flut fruchteten nicht, die beiden blieben, wo sie waren. Grund: Sie waren auf ein großes Gefäßfragment gestoßen, und offensichtlich lag da noch mehr.

Aufgrund der Flut konnte das Projekt erst am nächsten Tag fortgeführt werden. Bei der systematischen Durchforschung des Priels stieß ein Mitglied der Crew auf das wohl wichtigste Fundstück: Ein Holzfaß, das noch immer auf seinem Podest stand. In seiner Umgebung fand man Skeletteile, Tierschädel, Flechtwandreste, unzählige Keramiken, eine komplette Feuerstelle mitsamt Fischgräten, sowie das Fundament eines mittelalterlichen Langhauses. In etwa 2000 Schritt Entfernung entdeckte man zudem roh behauene Findlinge im Schlamm, deren Anordnung typisch ist für das Fundament einer Kirche. Anders als die umliegenden Sprengel besaß Rungholt eine Stiftskirche. Hatte man den sagenumwobenen Ort gefunden? Und wenn ja, was tun? Viele der Stücke waren offensichtlich erst jüngst vom Priel freigelegt worden und dümpelten im bedrohlich arbeitenden Nebenarm des Wattenstrom Dwarsloch herum.

Duerr machte eine Notbergung der archäologischen Schätze und kam dabei immer mehr zu der Überzeugung, daß es sich hier um Relikte Rungholts handeln mußte. Eine nähere Inspektion der „ecclesia cum collegio“ wurde jedoch vom Kapitän des Schiffes unterbrochen: Über Funkspruch hatte er erfahren, daß der fernglasbewehrte Vogelwart der Hallig Südfall die Wasserschutzpolizei zum sofortigen Kommen aufgefordert hatte. Diese sollte die Bremer, die „bereits bis zum Bauch im Watt“ stünden, bei ihrer strafbaren Handlung in flagranti erwischen. Obgleich die Polizei dem Aufruf nicht folgte, brach die Crew ihre Arbeiten ab und schipperte nach Pellworm zurück.

Nicht einmal im Traum dachte man daran, daß dies nur der Anfang einer langen Hetzjagd war. Nichtsahnend erstattete Duerr von Bremen aus seine Fundmeldung beim Landesamt für Vor- und Frühgeschichte und lieferte die zuvor vermessenen Fundstücke im Archäologischen Landesmuseum Schleswig ab. Eine kleine Holzprobe vom Faß und drei Keramikbröckchen aus der Feuerstelle behielt er zurück, um sie mit der C-14-Methode genau datieren zu können.

An den folgenden Tagen versuchte er mehrfach vergeblich, mit dem Leiter des Landesamtes, Professor Joachim Reichstein telefonisch zu kontaktieren. Doch dieser war ebenso wie sein Stellvertreter Hans Joachim Kühn angeblich stets außer Haus. Duerr rief schließlich Kühn privat an, um mit dem Kollegen, wie er hoffte, die Fundstücke zu interpretieren und fachzusimpeln. Doch es kam anders:

Kühn reagierte, gelinde gesagt, verstockt: „So, als wollte er unbedingt dem Klischee von der norddeutschen Fischköpfigkeit entsprechen, ließ er mich eiskalt abblitzen,“ wundert sich Duerr. Kühn teilte ihm mit, daß er an den Ausführungen Duerrs nicht interessiert sei und brach das Gespräch ab. Der Bremer wandte sich daraufhin mit einem Brief an Reichstein, in dem er um ein Gespräch sowie die Ausstellung eines einfachen Sammelausweises bat, wie er oftmals selbst Hobbyarchäologen ausgestellt wird. Etwa sechs Wochen später erhielt er Antwort. Per Einschreiben teilte das Landesamt mit, daß gegen Duerr ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Suchens und Grabens nach Kulturdenkmalen eingeleitet worden sei. Duerr und seine StudentInnen fielen aus allen Forscherwolken.

Am 27.9.94 stellte der Landrat von Husum das Verfahren ein, das Duerr unter Umständen eine Ordnungsgwidrigkeitsstrafe bis zu 50.000 Mark eingebracht hätte. Seither jedoch stehen Forscher und Landrat unter dem Beschuß lokaler Medien: „Kreis ermuntert zu Raubgrabungen“, titelten zum Beispiel am 23.11. die Husumer Nachrichten und zitieren damit Kühn. Im Artikel behauptet dieser, die „Neuentdeckung“ der Bremer Gruppe sei „wirklich absoluter Unsinn.“ Schon seit 20 Jahren wisse man, was da rumliegt. „Gerade dieses Gebiet ist sehr gut erforscht“, und kartiert worden. Überdies bezeichnet er Duerrs These, beim Schleusenbalken des Nissenhaus-Museums handele es sich um ein Schwindelobjekt, als „nicht haltbare“ Unterstellung. Bis heute seien die Schleusenreste nicht datiert worden. Trotzdem steht es für ihn „außer Zweifel“, daß die Fundstücke aus dem Rungholt-Zeitraum stammen. Last not least: Duerr sei vorgegangen „wie ein Laie“, das gehobene Material sei „kaum verwertbar“.

Professor Duerr widerspricht den Vorwürfen in allen Punkten: Erst am 13. Dezember 1993 habe Kühn ihm schriftlich mitgeteilt: „das Gebiet um Südfall haben wir noch nicht weiter untersucht.“ Da mehrfache Anfragen nach Karten von jenem Gebiet erfolglos waren, bezweifelt Duerr deren Existenz, zumal das Landesamt seine Fundstellen falsch beschreibt. Den Vorwurf des Dilettantismus mag Duerr schon gar nicht auf sich sitzen lassen und kontert: Die vom Landesamt behauptete „Grabung“ war gar keine, „dazu waren wir gar nicht ausgerüstet“. Es habe sich vielmehr um eine Notbergung von archäologischen Werten gehandelt, die im Priel freigespült und möglicherweise ein für allemal verlorengegangenen wären. Bezüglich des Schleusenbalkens bleibt Duerr standhaft, nennt Zeugen für die damalige Untersuchung, signalisiert jedoch Entgegenkommen: Man könne ja eine neue Analyse machen.

Doch, Blanke Hans, der Hohe Norden trutzt weiter und spricht nurmehr von den „Bremer Piraten“. Auch der Landrat scheint inzwischen auf Stromlinie gebracht. Wie die taz eruhr, ist das Ermittlungsverfahren gegen Duerr wieder eröffnet. Das Landesamt, so die Husumer Behörde, habe neues Material vorgelegt, welches Duerr bekannt sei. Dem ist nicht so, vorgestern wußte dieser nicht einmal, das das Verfahren wieder läuft. Er war davon ausgegangen, daß ihm lediglich noch die Beleidigungsanzeige anhängt, die das Landesamt in Sachen „Fischköppe“ gegen ihn gestellt hatte.

Doch nicht nur die Behörden schließen die Reihen. Auf Anfrage der taz, ob das Faß bereits datiert, der Inhalt untersucht sei, reagierte das archäologische Landesmuseum bemerkenswert: Einen Auftrag zur Datierung habe Duerr nicht erteilt, „darüber ist nie gesprochen worden.“

Der Bremer versteht das alles nicht. Will man seine Entdeckungen kleinkochen, weil sie zu schwergewichtig sind? Die von ihm in der Uni Bremen durchgeführte C-14-Analyse der Keramikreste förderte nämlich Erstaunliches zutage: Die Fragmente stammen aus den Jahren 1247/88, teilweise aber schon aus dem Jahre 680. „Das könnte bedeuten, daß sich dort oben schon sehr viel früher Friesen ansiedelten, als bisher angenommen.“ Die Verifizierung dieser These wäre in Archäologenkreisen eine absolute Sensation. Auch die Datierung der Holzprobe vom Faß könnte die ganze bisherige Rungholtforschung auf den Kopf stellen. Die aber liegt zur Zeit, ebenfalls unerreichbar, in des Professors Studierzimmer an der Bremer Universität. Dort nämlich brach ein Brand aus, nach dem sämtliche Räume asbestverseucht versiegelt wurden.

Das ist Schicksal. So, wie alles andere vielleicht. Denn einer Sage zufolge ist Rungholt in jedem siebten Johannisjahr bereit, sich von einem Sonntagskind erlösen zu lassen, wenn der Glückliche das Watt an genau der Stelle betritt, wo die Stadt 1362 im Meer versank. Hans Peter Duerr wurde an einem Sonntag eines Johannisjahres geboren, und auch das vergangene Jahr war ein solches. Zu viel Mystik? Fakt jedenfalls ist, daß die Zeit läuft und der Dwarslochpriel fließt. Seine immer stärker werdende Strömung könnte die Reste von Rungholt endgültig fortschwemmen, während, „noch schlagen die Wellen da wild und empört“, die Papierflut unaufhaltsam steigt.

„Wir sind im nächsten Jahr wieder da“, trutzt Peter Duerr dem blanken Hass. „Den Richter möchte ich sehen, der uns verurteilen will, weil wir nur geguckt haben, ob die Dinge dann noch da sind.“