Hören im Halbdunkel

Großer Lauschangriff auf die „8. Woche des Hörspiels“ in der Berliner Akademie der Künste. Abgehört und aktenkundig vermerkt  ■ von Gaby Hartel

„Wie diese Tonbilder wohl laufen mögen“, fragt sich Freund H., der RTL-Aussteiger, den ich als freiwillige Testperson zur achten Woche des Hörspiels in die Berliner Akademie der Künste schleppe. Nun, die Antwort ist einfach: Dämmerlicht auf karger Bühne, im Halbdunkel schimmernd der offizielle Blumenstrauß, Spot auf die Techno-Büste (Trophäe des einwöchigen Wettstreits) – alles ist optisch so reizfrei wie möglich.

Gemessen an der Reputation des Hörspiels in Fernsehkreisen ist das Publikum überraschend zahlreich und jung. Kurz schallt noch ein aufmüpfiger Zwischenruf ins dunkle Parkett: „Zu Haus' mach' ich beim Hören nie das Licht aus!“ Dann endlich fällt der Startschuß fürs alljährliche Rennen der zwölf Hörspiele aus ebenso vielen Redaktionen der ARD und des DeutschlandRadios.

Um die schlechte Nachricht zuerst zu nennen: Originäre Phantasieprodukte gab es dieses Jahr kaum. „Wie eskapistisch!“ lautet das (vorläufige) Verdikt eines Fachbesuchers nach den ersten Abhörabenden. Er meinte die auffallende Tendenz der eingereichten Stücke, sich hinter anerkannten Kulturgrößen zu verstecken (wie etwa: „Sit Well, Edith!“ nach der Autobiographie jener Exzentrikerin, die bloß als freundliches Teegeplänkel rübergluckerte, und andere gutgemeinte, doch ermüdend umgesetzte Romanadaptionen). Die andere Variante bat anerkannte Größen als Macher ans Mikro und ließ sie in ihren wohlbekannten Manierismen toben. Das gab schon mal ordentlichen Zündstoff für die Diskussionen, die sich im Anschluß an die Hördarbietungen im Barbereich der Akademie gelegentlich entzündeten. Dabei etablierte sich eine neue, paradoxe Variante des klassichen Generationenkonflikts: Da riefen plötzlich die Jungen frei nach Hamlets Mama: „Mehr Inhalt bitt' ich, wen'ger Kunst.“ Die Älteren kommentierten es im Gegenzug mit Lachern, wenn eine sehr junge Stimme das peppige Youngster- Hörspiel „Partyzone“ von Michael Esser etwas „zu politisch“ fand.

Die Diskussion zu Hans Neuenfels' ästhetizistischem Gewaltakt „Giuseppe e Sylvia“ aber verlief so prototypisch, daß sich das nähere Hinhören lohnte. Da zieht der Film-, Theater- und Opernmann alle Register seiner Kunst und verpflanzt den Verdi und die Plath in seine Version von Arkadien. Er erzählt in endlosen Reihen gequälter Metaphern und mit hitzig aufgeladenen Bildern voll Kot, Blut, Schleim und – fehlt noch was? ja richtig: Sperma. Auch ein formschöner Jünglingsmord wird geboten. (Es winkt von fern der Expressionismus anno 1910.) Als vertraue der Autor seiner kitschig-gewollten Sprache selbst nicht ganz, schaltet er zwecks dramaturgischer Erdung noch einen jungen Filmemacher ein. Der darf auf Zombi-Island das banale Glück der Seligen dokumentieren: ein Homemovie aus dem Hause Neuenfels.

All das Getue wirkt ermüdend, das jüngere Publikum reagiert gereizt, jenseits der Fünfundvierziger-Marge aber seufzt es: „Oh, wie sinnlich!“ Was wieder ernüchternd deutlich beweist, wie sehr halt Kunstgeschmack dem Zeitgeist unterworfen ist. Hans Neuenfels gab sich unzugänglich und schmetterte Kritik als Zeichen deutscher Humorlosigkeit ab. Wie schade, daß er nur zu seiner eigenen Aufführung kam. Der Anblick haltlos lachender Deutscher bei Max Goldts „Ein Leben auf der Flucht vor der Koralle“ oder „Plötzlicher Winter“ von Karl-Heinz Bölling hätte ihn vielleicht eines besseren belehrt; beides sehr engagierte und durchaus unterhaltsame Beiträge der jüngeren Garde.

Auf der Flucht vor dem wahren Leben

Ansonsten war schon auffällig, wie sehr der Kommentar zum großen Weltgeschehen in dieser Hörspiel- Jahresernte außen vor blieb. Statt dessen gab es jede Menge künstlerische Nabelschau, die sich in der Hitze des Diskussionsgefechts allzu oft als programmpolitisches Statement zu erkennen gab. Zu den gelungenen Ausnahmen gehört, wie schon erwähnt, die schreiend komische Zeit-, Sprach- und Medienkritik des Originals Max Goldt. Entwaffnend verarscht er einen Talkshow-Moderator und dessen rauchig-billiges Opfer Ruth Frau, „Ikone der Ära Adenauer“.

Formale Wagnisse verhallten im Abseits

Auch „Plötzlicher Winter“ geht in diese Richtung. Die absurde Groteske eines östlichen Kleinfamilien-Alltags in der neudeutschen Kältezone ist mit erfrischend satirischer Phantasie vorgeführt. An einer Stelle sprengt der Text tatsächlich seinen Rahmen. Da brüllt der Familienvater, 52, arbeitslos und deprimiert, verzweifelt: „Ich steige aus!“ leiert wütend die Credits des Hörspiels herunter und will so aus seinem Schicksal ausbrechen. Doch Frau und Kind kreischen: „Papa! Nein!“ Pech für den Armen, der nun doch bis zum bitteren Ende ausharrt und weitermacht.

Auch „Das Portrait“ von Giacometti nach James Lord hätte Vorbildliches abgegeben, hätte Autor Anders Nyman das Original nicht so restlos verwässert. Statt existentiellem Kampf eines extremen Menschen erlebte man dessen klischierten Abklatsch: Künstler sind also infantil, geil, versoffen und toben manchmal 80 Minuten lang durch einen ansonsten sterilen Hörraum. Auch ein kritisch intendiertes Stück des Altmeisters Heinz von Cramer rutschte ab. „Das war Elvis! oder The American Way of Death“ hatte zwar als persönliches Motiv „Abscheu und Warnung vor der US-Marketing- Gesellschaft“ aufzuweisen, blieb aber trotz aufklärerischem Willen formal so hermetisch, daß die Botschaft nur bei denen ankam, die den ehrenwerten Autor ohnehin schon kannten.

Experimentiert wurde leider nur im Abseits und – wie sich das gehört – ein wenig mißverstanden. Die film-noir-Elegie „Squat/Abriß“ (Jean-Pierre Milovanoff) war ein höchst interessanter Hörfilmversuch. Musikalisch verwobene französische und deutsche Stimmen evozieren Momentaufnahmen von crime et tristesse, Szenen aus dem Repertoire der Nouvelle Vague ... Gut dreißig Jahre nach dem Existentialismus verweisen sie auf neue Armut, neue Kälte.

Last not least das preisgekrönte Hörspiel: „Zoo“, ein künstlerisch gelungenes Dokumentarstück von Patricia Görg begleitet mitreißend komisch vier alte Zoo-Süchtige auf ihrem täglichen Rundgang zu ihren Schätzchen. Ganz en passant wird da der Mensch zum eingesperrten Tier, and all the world's a zoo!

Am Zukunftsbild des Kulturradios scheiden sich derzeit die Geister. „Mord am Wort“ fürchten die einen – andere wollen sich bei „konventioneller Kunst“ nicht zu Tode langweilen. Dabei wäre ein Konsens so einfach: Man müßte die verschiedenen Positionen nur als Dialog und nicht als Frontstellung ansehen.