Willkommen im Dschungel!

„Musik der Zukunft“ oder doch bloß just another Jugendfreizeitvergnügen? Jungle, Londons jüngster Kulturexport, kommt über den Kanal. Und schon gibt es Kämpfe um die Vorherrschaft im Dschungelreich  ■ Von Maurice Najman

Der Zeitpunkt zumindest ist klar: Jungle ist Ende August bei der 29. Ausgabe des Karnevals von Notting Hill Gate explodiert. Die Anhänger der black music, des traditionellen Soca und Raggamuffin, die Fans der Steel Bands auf ihren Lastern, die der Parade voranfahren, die Karnevalsgesellschaften, die in den von den West Indies bewohnten Vierteln das ganze Jahr ihre Show vorbereiteten – sie alle haben diese Musik, die ihnen von den zahlreichen DJs und MCs auf ihren Sound Systems vorgespielt wurde, augenblicklich übernommen. Erst später haben die hunderttausend Karnevalisten, Schaulustigen und eigens zu diesem Anlaß angereisten Touristen entdeckt, daß es sich dabei um das neue Ding handelt: Jungle.

London calling

Seitdem ist in England die Hölle los. BBC zufolge treffen sich jedes Wochenende 25.000 bei den Jungle Raves. Die Mainstreampresse hat ein neues Massenphänomen entdeckt, und auch wenn es Jungle zuvor im „Underground“ schon eine ganze Weile gab, gefällt man sich bei den Boulevardblättern erst jetzt in sensationalistischen Artikeln, die in Jungle-Fans nur einen hysterisch nach einem wilden Rhythmus herumspringenden Haufen von Crack-Rauchern sehen. Die Jungleisten dagegen werten das als nachträgliche Bestätigung ihrer Unabhängigkeit.

„Der Jungle ist in London geboren! Jungle ist eine echt britische Musik!“ Aber er kommt aus einem anderen England. Der anerkannteste MC der Jungle-Szene, UK Apachi – mit seinem Kumpel Shy FX gerade in den Top 40 – hat seinen Namen nicht umsonst gewählt. UK Apachi, 26 Jahre, ist „ethnisch“ halb Inder, halb Araber. Sein Großvater hat sich in London niedergelassen, wo er als südafrikanischer Abgesandter des ANC hingesandt wurde, um die Anti- Apartheidbewegung in England zu repräsentieren. Wie der Jungle ist auch er im Londoner East End geboren. „Unsere großen Brüder oder unsere Väter mußten auf ihren afrikanischen Wurzeln beharren, um zu überleben. Wir sind die dritte Generation – Vollblutengländer. Mit dem Jungle haben wir unsere Musik erfunden. Und damit erfinden wir eine andere Art, britisch zu sein.“

Bass Culture

„Jungle ist das natürliche Ergebnis der Entwicklung, die die verschiedenen Musikrichtungen seit den siebziger Jahren genommen haben“, definiert großzügig Robert Playford, weißer Produzent von Moving Show, einem der Pionierlabel des Jungle Underground. „In dieser Musik treffen mehrere Einflüsse aufeinander: einmal der Reggae, mit Umweg über Dub und Raggamuffin, die aus Jamaika kommen; zum anderen House, mit Umweg über Techno, Hardcore und vor allem Breakbeat für die ,angelsächsische Linie‘; schließlich HipHop, der für die jungen Schwarzen Amerikas das war, was Jungle für uns ist.“

„Am Anfang“, erklärt er weiter, „ging es um die Suche nach einem mehr tänzerischen Rhythmus als dem, den der Hardcore vorgab. Das Kennzeichen von Jungle ist ein Schlagzeug, das mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs trommelt, sowie eine Baßlinie, eine Art und Weise, tiefe Frequenzen zu benutzen, die vom Reaggae kommt. Das Ganze wird dann auf 160 bis 180 bpm (beats per minute) beschleunigt – was dazu führt, daß man sich seinen eigenen Tanzrhythmus wählen kann: man kann jeden der Takte springen oder darauf ,surfen‘. Auf dieser Basis, die man ,Drum and Beat‘ getauft hat, mixt der DJ Samples verschiedener Herkunft, von Raggaestücken bis zu soulmäßigeren Elementen, die man sich etwa bei Anita Baker ausleiht.“

Bedroom Studios

Andere Produzenten heben wieder andere Eigenschaften hervor, betonen etwa das „Toasten“ des MCs zum Mix, das kreative Moment in der Auswahl der Samples. Jungle ändert sich ständig, ein Stil entthront den anderen, und ein jeder besteht auf der „Öffnung“ und dem „Abwechslungsreichtum“ einer Musik in ständiger Bewegung: „Wir haben gar keine Zeit, uns hinzustellen und zu sagen, das ist jetzt Jungle“, meint DJ Gachet. Die Genres sind in der Tat zahlreich, und zwischem dem „Dark“, dem „Happy“ oder dem brandneuen „Future“, der sich die Atmosphäre des Trance und Ambient einverleibt, ist die Entfernung groß – ohne daß dies einen Bruch darstellen würde. Manche veranlaßt das, von der „Musik der Zukunft“ zu sprechen, „die mit der Zeit eine genauso wichtige Rolle spielen wird wie der Punk oder selbst der Rhythm and Blues“ ...

Jungle als permanente Revolution ist eng mit einer anderen Revolution verknüpft: der massenhaften Verbreitung des Computers. „Jedes Kid kann sich heute in seinem Zimmer ein Ministudio aufbauen. Es sucht sich auf seinem Atari einige Rhythmen aus, ,baut sie auf‘, sucht sich ein paar Samples, nimmt alles auf einem DAT- Recorder auf – und fertig ist das Kunststück“, erklärt Olla, young, gifted and black. Mit seiner Freundin Laura, einem weißen Mädchen aus gutem Hause (studierte bis vor kurzem Literatur), hat er gerade

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

das „Just Another Label“-Label kreiert. Produziert wird der Happy Jungle im Keller, wo ein Computer, ein Sampler und zwei Keyboards stehen.

In solchen „Bedroom Studios“ wird Pionierarbeit geleistet. „Unsere Kraft liegt in der Möglichkeit, unabhängig zu produzieren“, betont Olla. Nachdem der erste Mix aufgenommen ist, produzieren die Musiker eine „dubplate“: eine Urplatte mit einer Auflage von einigen Dutzend. Jemand vom Label geht dann zu spezialisierten Plattenhändlern, bei denen die marktbestimmenden DJs verkehren. Gleichzeitig wird die „dubplate“ den einflußreichsten DJs der Piratensender angeboten. Wenn das Stück „funktioniert“, werden einige tausend Exemplare gepreßt, auf den Piratensendern der Mittelwelle gesendet, in den wenigen Jungle Clubs gespielt und in den Geschäften des Network verkauft. „Das ist der klassische Weg“, sagt Olla, der seine ersten Schritte in der Szene getan hat, indem er Jungle Discs in seinen Rucksack gestopft und vertrieben hat: „Ich bin mit 200 Platten im Rucksack los und hab' dann mit der U-Bahn oder dem Zug sämtliche Plattengeschäfte abgeklappert.“

Um einmal zu sehen, wie so ein Piratensender aussieht, der auf der sonst fast überall freigegebenen Mittelwelle surft, muß man Diskretion versprechen. Die Adresse bekommt man natürlich nicht. Man trifft sich an einem anderen Ort und wird dann in eine Wohnung, in ein leerstehendes Büro oder in ein besetztes Haus geführt.

Dschungelradio

Die „Tatorte“ („schwarz“ senden ist in England ein Vergehen, für das nach dem 1990 verabschiedeten Broadcasting Act, das nichtkommerzielle Radios für „illegal“ erklärt, hohe Strafen bezahlt werden müssen und wofür man mit Antennenverbot für mehrere Jahre belegt wird) wechseln ständig. Heute steht der Sender in der Küche einer Posse aus der Nachbarschaft. „Wir mußten 2.500 Pfund auftreiben, um Transmission One ins Leben zu rufen“, erklärt „X“, der Moderator. „Keiner von uns wird bezahlt, aber einige unserer DJs arbeiten bei den Labels oder Plattengeschäften. Wir kennen die Risiken, denen wir uns aussetzen, aber wir lieben unsere Musik, wir verteidigen und verbreiten sie, wir stellen die letzten Produktionen vor, wir sind Teil einer Bewegung.“

Wenn ein Radio von der Justiz angegriffen wird, mobilisiert sich alles, die Plattengeschäfte werden zu Widerstandsnestern. „Die Angriffe kommen aus allen Richtungen“, bestätigt DJ Flash, der gerade von der Schließung des „Paradise“, einer der Londoner Jungle- Tempel, erfahren hat. „Angeblich haben sich die Nachbarn über den Lärm und den Auflauf beschwert. Jedenfalls sind die Bullen um zwei Uhr morgens über uns hergefallen und haben alle rausgeschmissen.“ Seitdem, sagt Flash, könne er sich vorstellen, was passiert, wenn das Parlament die ,Criminal Justice Bill‘ verabschiedet – ein Gesetz, das jegliche Versammlung von mehr als zehn Personen, die „repetitive Musik“ hören, verbietet und natürlich zur Bekämpfung von „Drogennestern“ konzipiert wurde.

Im Basement von „Black Market“, dem Plattengeschäft und Treffpunkt in Soho, ist man weit mehr als nur zu zehnt, wenn man die letzten Produktionen hört. Die Fans, die sich vor dem Ladentisch drängen, heben die Hand, wenn ihnen eine der Platten gefällt und sie sie kaufen möchten. Die Kisten, in denen sich die CDs stapeln, deren Referenzen mit einem simplen Marker auf einen weißen Umschlag aufgetragen sind, leeren sich schnell. Die Label produzieren nur einige hundert, bestenfalls einige – wenige – tausend.

Auf dem Ladentisch geben Flyer die Daten der nächsten Parties an; Fanzines fassen Produktionen zusammen, veröffentlichen Interviews mit den neuen DJs und MCs, geben heiße Adressen. Den Effekten ihres Kampfes um Unabhängigkeit entgehen die Jungleisten jedoch nicht. Da ihre Musik keinen Rückzug auf eine „Reinheitsposition“ zuläßt, richtet sich das ihrer Selbstverteidigung innewohnende Sektierertum gegen die „Verräter“, die dann zum Feind hinüberwechseln, wenn sie auf das Publikum setzen und „zuallererst an Geld denken“; vorübergehend hat sich sogar eine Art informelles DJ-Komitee gebildet, um über General Levy den Bann zu verhängen.

General Levy, ein Ragga-Star, der „auf den Zug aufgesprungen ist“ und mit dem Titel „Incredible“ die Top 10 gestürmt hat, dessen Erfolg viele der Hürden, die dem Jungle von den Medien, den offiziellen Radiosendern und sogar von MTV errichtet worden waren, abgebaut hat – dieser General Levy hat sich das Recht herausgenommen, sich als „König des Jungle“ zu präsentieren. Seitdem wird er von den Radiosendern boykottiert und sein Hit wird auf den Raves nicht mehr gespielt.

Das Gegenmodell ist UK Apachi. Die Botschaft seiner Texte, die er selbst „Street talks“ nennt, ist für ihn die „Hoffnung und Langeweile einer ganzen Generation“: „Ich versuche, so einfache Ideen wie den Respekt vor dem anderen hinüberzubringen. Jungle vereint. Er trägt zur Bildung der Jugendlichen bei.“

Fifty-fifty

Apachis Stück „Original Nuttah“ erzählt von den „Nuttahs“, den „Verrückten“: „Aber es handelt sich nicht um Amokläufer oder um Gangster, sondern um Leute, die mich mein Großvater lieben gelehrt hat. Typen wie Gandhi, Malcolm X oder Mandela, deren spirituelle Kraft uns den Weg zeigt, dem wir folgen sollen“, beeilt er sich zu präzisieren.

Die Szene spielt sich im Büro David Stones ab. Auftritt: zwei junge Schwarze. Daddy Gee und Tempo „O“ Neil spielen dem Boß von SOUR einen Mix vor, den sie auf einer Demo-Kassette produziert haben. Leider konnte Daddy Gee, der MC, seine Lyrics nicht zur Musik seines Kumpels aufnehmen. Macht gar nichts – singt er sie eben vom Sessel aus zu dem Sound, der aus den beiden enormen Lautsprechern dröhnt.

David folgt mit geschlossenen Augen, ein kleines ekstatisches Lächeln auf den Lippen, nickt mit dem Kopf zum Rhythmus. „Das ist super! Ich bereite euch einen Vertrag vor“, sagt er beim Ende des Stücks sofort. Und nennt ohne Umschweife die Konditionen: „50 Prozent für euch. Ich kümmere mich um alles, was Produktion, Herstellung und Vertrieb angeht, und ihr behaltet die Kontrolle über eure Musik. Und: Ihr nehmt an den Raves teil, die ich für das Jahresende vorbereite ...“ Die beiden Musiker lächeln sich zu und merken sich sorgfältig den letzten Hinweis, den David ihnen gibt: „Ihr müßt euren Vertrag von einem unabhängigen Rechtsberater prüfen lassen. Das ist die Regel.“

„That's Jungle!“ sagt David triumphierend. „Ab 2.000 verkauften Discs fangen wir an, ein bißchen Geld zu verdienen. Zwei- bis fünftausend verkaufte Discs bedeuten ein gutes Ergebnis. Einige seltene Hits erreichen sogar Verkaufszahlen von 10.000 und mehr. Ich bekommen jeden Tag Angebote von den ,Majors‘“, bestätigt er und zeigt mir ein Fax von Sony Japan, das er am Morgen erhalten hat. „Aber ich ziehe unser System vor, das auf dem Respekt vor den Künstlern basiert und ihnen die Kontrolle über ihre Kunst läßt. Daher die 50/50. Bei einem kommerziellen Label würden sie nur 12 bis 13 Prozent bekommen“.

Global Underground?

Trotzdem stehen die Majors vor der Tür, und sie heißen nicht nur Sony, sondern auch EMI und WEA. Und so ganz abseits des Erfolgs will man am Ende auch nicht leben. „Es wird Zeit, daß wir ein bißchen Geld verdienen“, gibt David Stone zu, „wir arbeiten seit vier Jahren wie die Verrückten, aber mit Freude daran, diese Musik zu fördern; viele von uns haben zahlreiche Opfer während dieser Jahre auf sich genommen.“

So wird aus Idealismus Busineß. Ist der Jungle stark genug, seinem eigenen Erfolg zu widerstehen? Geben die jamaikanischen Produzenten ihm eine neue Dimension? Werden die Compilationen, die gegenwärtig für ein amerikanisches, japanisches, deutsches und französisches Zielpublikum herausgegeben werden, mehr schaffen als einen Erfolg, der sich durch Neugierde und den guten Ruf erklären läßt? Wird der Jungle seine für sich beanspruchten „britischen“ Ursprünge hinter sich lassen können, um sich als eine „globale“ Musik durchzusetzen? Eins steht fest: Die Antwort wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Jungle-Sampler gibt es mittlerweile von WEA, Sony, SPV – to be completed. Ansonsten in den Importabteilungen der besseren Läden Ausschau halten. Für Berliner: Downbeat, Label und Plattenladen in Schöneberg, Pallasstr. 21.