Individuelle Freiheit und Gemeinsinn

Begrenzte Anerkennung oder: Warum sind Solidaritäten nur beschränkt politikfähig  ■ Von Adalbert Evers

Nicht so sehr durch die Kommunitarismusdebatte, sondern eher durch Äußerungen, Bücher und Manifeste von Politikern und Journalisten, von Schäuble bis Schmidt, von Wickert bis Dönhoff, ist die Debatte über Individualismus und Gemeinsinn zum öffentlichen Thema geworden. Die eine Position läßt sich dabei etwa so stilisieren: Das Vordringen eines egozentrischen Individualismus bedroht Solidaritäts- und Bindungsfähigkeiten. Das Problem liegt zuerst in der Gesellschaft und dann erst bei einer Politik, die nicht den Mut hat, gegen einen solchen Strom anzuschwimmen. Die Gegenthese – mit am deutlichsten artikuliert etwa von Warnfried Dettling – sagt sinngemäß: Hier wird ein einseitiges Bild von Gesellschaft gezeichnet, in der auch heute weit mehr gelebte Alltagssolidarität bewiesen wird, als eine moralistische Bürgerkritik vermutet. Der Schwarze Peter liegt zuallererst bei der Politik, die sich mit dem Verweis auf die sinkende Bürgermoral aus ihrer eigenen Verantwortung für eine effektive Unterstützung gesellschaftlicher Solidaritätspotentiale verabschiedet.

Es spricht einiges für diese zweite Sichtweise, und es gibt genug Anschauungsmaterial dafür, wieviel Bindungs-, Hilfsbereitschaften und Alltagssolidaritäten heute tatsächlich vorhanden sind – Potentiale, die auch politische Unterstützung und Anerkennung gefunden haben, vor allem vor Ort, in der Lokalpolitik und in den jeweiligen Fachpolitiken, die Ausschnitte des Sozialen, wie Familie, Alter, Gesundheit, verwalten. In der „großen Politik“ und den Prioritäten, die sie setzt, haben jedoch – mit Ausnahme der ritualisierten Appelle an die Tarifpartner und der neuen Familienrhetorik – Solidaritäten und Gemeinschaftsverbindungen keinen Platz; da geht es um mehr Markt, Effizienz und Eigenverantwortung der Wirtschafts- und Sozialbürger als Privatpersonen.

Allein, es scheint mir, daß diese ebenfalls problematisch ist. Allzuleicht wird hier die aufgeworfene Frage nach den Vereinbarkeiten von Individualismus und Altruismus mit dem Verweis auf deren faktische Koexistenz entproblematisiert und die Sicherung gesellschaftlicher Solidarpotentiale zu einer kontingenten rein politischen (Willens)frage. Ich möchte demgegenüber zeigen, daß deren „begrenzte Anerkennung“ ganz wesentlich zu tun hat mit der individualistischen Prägung unserer Alltagskultur und auch mit Blindflecken einer liberalistischen politischen Kultur. Aus dieser Argumentationsperspektive kann sich weder die Gesellschaft an der Politik noch die Politik an der Gesellschaft entlasten. Vier Punkte sollen hier herausgestellt werden.

Individualismus und Solidarität

Der erste betrifft eine systematische Geringschätzung der Szenen und Bereiche, die Kurt Biedenkopf als „kleine Lebenskreise“ bezeichnet hat, des Feldes also, wo der größte Teil von sozialen Einbindungen und Alltagssolidaritäten ihren Ort haben. Dieses Problem hat viel mit der Entwicklungslogik von Sozialstaatlichkeit zu tun. Sie war ja zuallererst darauf gerichtet, die mit der Great Transformation zerstörten Sicherheiten zu substituieren. Unabhängigkeit durch soziale Sicherung war und ist hier das zentrale Thema; daß diese Unabhängigkeit genutzt werden und im wesentlichen ausreichen sollte, um auf einer befreiten Grundlage Sozialität und Individualität zu pflegen und entwickeln, schien nur allzu selbstverständlich zu sein. Allein die Great Transformation ist ja nicht zu Ende, und der Prozeß der Substitution der Beziehungen zwischen Menschen durch sachlich vermittelte Beziehungen geht weiter. Und angesichts sozialer Depravierung an den Rändern, aber auch im Kern der Gesellschaft zeigen sich die Grenzen der Wirksamkeit großer und mechanischer Solidaritäten bei der Aufgabe, auch das soziale und gemeinschaftliche Substrat zu sichern, ohne das der Einzelne kaum Individualität auszubilden vermag. In vielen der perfektionistischen Designs zukünftiger Sozialstaatlichkeit wie zum Beispiel denen des Bürgergeldes überwiegt jedoch immer noch die individualistische Utopie des „Jede ohne jeden“. Es fällt offensichtlich schwer, einen Perspektivwechsel vorzunehmen in Richtung auf eine Gesellschaft, die der Erhaltung und nicht dem Ersatz kleiner Lebenskreise der immer löchrigen und ungewissen Sicherungsmöglichkeiten, die sie bieten, und der Unterstützung des Engagements, von dem sie leben, einen grundsätzlich höheren Stellenwert einräumt als bisher.

Dies führt direkt zu einem zweiten Punkt. Er betrifft den Einfluß einer Sichtweise, die mit Blick auf eine unterstellte Eigenlogik von Modernisierungsprozessen und sozialem Wandel glaubt, deutlich zwischen nicht erhaltungsfähigen und deshalb auch nicht weiter unterstützungswürdigen „traditionellen“ Solidaritäts- und Gemeinschaftsformen und neuen „posttraditionalen“ Gemeinschaften und Solidaritäten unterscheiden zu können, die allein Förderung lohnen. Eine entsprechende Modernisierungsorientierung war lange Zeit gerade auch für grüne Politik bestimmend, so daß dann ihre Unterstützung von Solidaritäten und kleinen Netzen entsprechend selektiv ausfiel: Engagements im Umkreis der Familie, der traditionellen lokalen Vereinskulturen oder der Ehrenamtlichkeit waren so recht eigentlich kein Thema, und es wurde ausschnitthaft eine spezifische Klientel im Selbsthilfe- und Projektbereich bedient, die als Pioniere einer um Autonomie und Selbstverwirklichung zentrierten „alternativen“ Form von Hilfe und Solidarität gelten konnten. Zugespitzt äußert sich das als eine Art triumphalistisches Einverständnis mit einem Modernisierungsprozeß, der mit den Traditionsresten an Bindungen scheinbar Tabula rasa macht und jedem die (wie man zugibt, riskante) Freiheit beschert, uns jenseits aller Traditionsverpflichtungen täglich neu zu erfinden. Inwieweit hier – sei es bei der Thematisierung jugendlicher Subkulturen oder der Single-Kultur als vorgeblichem Produkt freier Entscheidung – zum Teil auch bittere Enteignungserfahrungen, also Individualisierung als Zurichtung gewissermaßen verklärend und heroisierend gewendet werden, ist ein anderes Thema. Begrenzte Anerkennung von Solidaritäten und Gemeinschaftsbindungen heißt vor diesem Hintergrund, daß sie so etwas wie situationsabhängige Sozialtechniken für die besonders betroffenen werden: die Wohngemeinschaft, in der niemand von uns leben will, kann dann immer noch als therapeutisches Modell oder gute Lösung für die lieben Alten empfohlen werden. Ähnlich wie Sozialhilfe oder Wohngeld werden Solidarität und die Abhängigkeit von persönlichen Hilfen zu so etwas wie Spezialproblemen.

Wir haben bereits gesehen: eine individualistische Kultur hat wie jede Kultur ihre eigenen Selektivitäten und Verstärkermechanismen. Auch in Hinblick auf Hilfe und Gemeinschaftsbildung kommt das eine hier besser an als das andere. Soweit unsere Kultur auf Selbständigkeit, Kreativität und Nutzen orientiert ist, gibt sie vor allem jenen Formen und Aspekten der Gemeinschaftsbildung besonderen Rückhalt, die in diesen Referenzrahmen passen. Besonders gut stehen sich da zum Beispiel die multikulturelle Kulturinitiative Jugendlicher oder die Wissensbörse von Senioren als ein selbstorganisierter Beitrag zu einem „erfolgreichen Altern“. Die Selektivität eines kulturellen Referenzrahmens wirkt übrigens auch in umgekehrter Richtung: Um nicht als Abweichler zu erscheinen, bemühen sich die Betroffenen, das eigene Engagement als wechselseitig bereichernde Austauschbeziehung zu stilisieren; schiere Hilfsbereitschaft kann peinlich sein. Daß Individualismus und Engagement einander stimulieren können, ist gut und recht. Das Problem liegt in den dabei verdrängten und nicht zur Sprache kommenden Elementen, zum Beispiel denen der Mühsal, des Opfers und der Einschränkung, die das Helfen und Sich-Engagieren ja auch prägen. Und es liegt in der folgenreichen Begrenzung, die sich aus dieser Stilisierung in Hinblick auf die Einklagbarkeit politischer Unterstützung ergibt. In dem Maße, wie Initiativen und Hilfsbereitschaften sich gewissermaßen als Frage persönlicher Präferenzen darstellen, kann die Politik sich mit einigem Recht darauf beschränken, ihnen alles Gute zu wünschen.

Ein minimalistisches Konzept des Bürgers

Ein anderes Motiv für Hilfe und Engagement kann von den Betroffenen offenbar nur weit mühsamer zur Geltung gebracht werden: nämlich daß ihre Tätigkeit Ausweis ihres Gemeinsinns ist – als Mitglieder einer Kirchengemeinde, eines Stadtteils oder einer Kommune, aber auch als Staatsbürger. Tatsächlich enthält das Wort vom Gemeinsinn ja eine komplexe Verschränkung von Freiwilligkeit und Notwendigkeit und den Appell an unsere Einsichtsfähigkeit, bei einigen öffentlich wichtigen Dingen mittun zu müssen und so Gemeinsinn unter Beweis zu stellen. Vor allem die staatliche Seite hat sich in Sonntagsreden und Broschüren nun diesen Begriff angeeignet und benutzt ihn gern als Hebel, um Ansprüche der Politik gegenüber den Bürgern zu begründen. Auch, aber nicht nur das ist es wohl, was es vielen Initiativen, Gruppen und ehrenamtlich Engagierten so schwer macht, ihrerseits Gemeinsinnmotive explizit zu machen. Schließlich galt und gilt es ja als Tugend eines liberalen Gemeinwesens, den Bürger nicht allzusehr zu beanspruchen und Pflichten tunlichst aufs Steuerzahlen und den Wehrdienst zu begrenzen. Das erschwert es zumindest zusätzlich, den Spieß umzudrehen und als Bürger, der Gemeinsinn zeigt, Anforderungen an die Politik zu stellen: auf mehr Anerkennung, Unterstützung und Aufwertung des eigenen sozialen Engagements, das Ernst macht. Die Überschrift: „Wir übernehmen Verantwortung“, unter die Seniorengenossenschaften und Initiativen des 3. Lebensalters in Baden-Württemberg ihre Arbeit gestellt haben, ist hier beispielhaft.

Der Verlust der Fähigkeit „to put public commitments into words“, wie es Robert Wuthnow in seiner Studie über „Acts of Compassion“ mit Blick auf die US-amerikanische Kultur beschrieben hat, ist allerdings folgenreich. Denn das Maß der Anerkennung sozialer Initiativen durch die Politik bemißt sich dann einseitig und vorrangig an nur einem Maßstab – dem ihres unmittelbaren sozialen Nutzens. Die Frage nach dem Ausmaß an zusätzlich mobilisierten Ressourcen, Dienstleistungsverbesserungen oder erzielten Einsparungen dominiert alles andere, wenn Engagement nur Mittel für die Zwecke ist, um die es im jeweiligen sozialen Sach- oder Fachbereich gerade geht. Diese Form der begrenzten und im Extremfall sozialtechnisch halbierten Anerkennung hat damit zu tun, daß es bislang kaum gelungen ist, einen Fachlichkeiten übergreifenden Diskurs zu entwickeln, der die gemeinsamen Anliegen und Motive der in Frauenhäusern Hospitälern, Kulturzentren und Seniorenbüros Engagierten stärkt und unterstreicht und der die (folgt man Michael Walzer) Verpflichtung auch eines liberalen Gemeinwesens einklagt, solche Formen der Gemeinschaftsbildung jenseits der Abwägung ihres unmittelbaren sozialen Nutzeffektes anzuerkennen und zu fördern.

Verantwortlicher Individualismus – eine Herausforderung auch an die Grünen

Insbesondere die Grünen stehen mitten in dem hier markierten Spannungsverhältnis mit seinen Herausforderungen. Einerseits sind sie heute diejenigen, bei denen der Anspruch auf persönliche Freiheit besonders ausgeprägt ist; oft ist bei dieser Autonomieemphase der Unterschied zum marktliberalen Konzept individueller Freiheit nur noch in der Unterstreichung der politischen Partizipationspflichten des Einzelnen erkennbar, als jenem dünnen Faden, der ihn mit der civil society verknüpfen soll. Andererseits sind die Grünen auch von der Geschichte einer neuen Welle ziviler Solidaritäten, wie sie sich in den vielfältigen sozialen und kulturellen Projekten seit Ende der sechziger Jahre niedergeschlagen hat, geprägt worden – somit auch von einem Autonomiebegriff, der Freiheit und Permissivität wohl auseinanderzuhalten versteht und auch die Verschränkung von Individuation und sozialer (nicht allein politischer) Teilhabe im Blick hat. Ging es dabei vor allem um mehr oder minder frei gewählte Bindungen und Solidaritäten, so ist in den letzten Jahren mit dem Aufgreifen von Problemen der (Re)Konstruktion kleiner Netze rund um das Thema Familie und der Ansprüche von Familienfrauen auch eine Öffnung für die Dimension der Bindungen hinzugekommen, die in Traditionszusammenhängen stehen und nicht jederzeit aufkündbar sind.

Und wenn schließlich angesichts leerer Gemeindekassen ohne Übernahme durch örtliche Vereine ein Schwimmbad geschlossen und ohne freiwillig Engagierte ein Museum seine Schließtage verdoppeln muß, wird deutlicher als bisher, wie bedeutsam Solidarität nicht nur für benachteiligte Gruppen, sondern auch für das Gemeinwesen als Ganzes ist. Es geht also um eine Klärung und Zuspitzung unterschiedlicher Konzepte von Individualismus und Bürgergesellschaft. Ich würde hier gerne von dem Projekt der Kultivierung eines „verantwortlichen Individualismus“ sprechen, das nicht nur die soziale Bedingtheit von gelingenden Individualisierungsprozessen betont, sondern das auch Raum gibt für die politische Vermitteltheit solcher Prozesse – für den Wert von Gemeinsinn.

Hohe Zeit, die Grenzen eines Konzeptes von Bürgergesellschaft zu überwinden, das auf sozialer Ebene nur Bürgerrechte und auf politischer Ebene auch so etwas wie Bürgerpflichten kennt.

A. Evers ist Professor für Sozialpolitik an der Universität Gießen